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Der Zerfall des „Glaubens

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Die katastrophale Wirtschaftslage in der Sowjetunion, der sowjetische Verzicht auf die Führung der osteuropäischen. Staaten, die Bereitschaft zur Abrüstung sind einige Themen, die immer wieder von den Medien bei uns aufgegriffen werden. Alles - in Ost und West - schaut auf Gorbatschow und hofft, daß er in dem allgemeinen Durcheinander in der Sowjetunion einen Weg finden könnte.

Gorbatschow ist ohne Zweifel lernfähig, läßt frühere Vorstellungen fallen, versucht neue Wege. Aufeine Frage hat er allerdings bis heute keine zufriedenstellende Antwort geben können: Woran sollen wir noch glauben? Man kann diese Frage auch anders formulieren: Wem können wir noch glauben? Gorbatschow - im Marxismus-Leninismus erzogen und zur Führung aufgestiegen - meint, man müsse vor allem zu Lenin zurückkehren.

Seit Beginn der Perestrojka in der Sowjetunion wurde wieder damit begonnen, Meinungsumfrage-Ergebnisse zu veröffentlichen. Man hatte auch unter seinen Vorgängern Meinungsbefragungen durchgeführt, aber die Ergebnisse nur in winzigen Bruchteilen veröffentlicht. Die Ergebnisse waren zumeist so niederschmetternd gewesen, daß man sie sofort mit dem Stempel „streng geheim" wegschloß.

Im Mai 1990 - also noch vor dem XXVIII. Parteitag-veröffentlichte die Wochenzeitung „Moskowskije Nowosti" unter der Überschrift „Vertrauenskrise" die Ergebnisse von Meinungsumfragen aus den Jahren 1989 und 1990. Ein Ergebnis war verblüffend: Die religiösen Organisationen wurden im März 1990 als „besonders vertrauenswürdig" bezeichnet. Für den westlichen Beobachter ist dabei erstaunlich, daß sowohl dem Staatssicherheitsdienst KGB als auch den Streitkräften viel Vertrauen entgegenge-

bracht wird (siehe Kasten). Man muß erklärend hinzufügen, daß überall in der Sowjetunion eine geradezu panische Angst vor dem allgemeinen Chaos herrscht. Nachdem das Vertrauen in die Partei ständig sinkt, scheint man in der Armee einen unverzichtbaren Ordnungsfaktor zu sehen.

Was das KGB anbetrifft, so gibt es dafür folgende Erklärung; In den letzten Jahren haben die Verbrechen in der Sowjetunion erschrek-kend zugenommen. Es kann allerdings auch sein, daß die früheren Angaben über die Verbrechen nach unten verfälscht worden sind und die genauen Angaben der letzten Jahre nun allgemeine Angst hervorrufen. Man sieht im KGB offensichtlich einen Schutz gegen die Kriminalität, vor allem gegen die organisierten Verbrecherbanden.

Was aber bedeutet das große Vertrauen gegenüber den Religionsgemeinschaften in der UdSSR? 70 Jahre lang sind alle Religionsgemeinschaften verfolgt worden, zeitweise blutig und brutal, zeitweise durch Schikanen und Drangsalierungen. 70 Jahre lang sind die Sowjetbürger - von der Wiege bis zur Bahre - im Geiste des Marxismus-Leninismus erzogen worden.

Die Sowjetbürger hatten gelernt, daß es keinen Gott gibt, daß die Geschichte nach festen Gesetzen verläuft und zum Kommunismus auf der ganzen Welt führen wird. Sie hatten gelernt, daß der Marxismus-Leninismus eine Wissenschaft ist, daß die Partei ihn alleine richtig auslegt und anwendet. Und ständig wurde ihnen Angst eingejagt, daß die kapitalistisch-imperialistischen Staaten einen dritten Weltkrieg planten.

Trotz der Verfolgung der Religionsgemeinschaften, trotz der ununterbrochenen Schulung im Marxismus-Leninismus gab es 1985 in der Sowjetunion rund 70 Millionen Gläubige verschiedener Bekenntnisse. Es gibt Schätzungen, die sogar über 100 Millionen hinausgehen.

Es gibt keinerlei Zweifel, daß Millionen Sowjetbürger an den Marxismus-Leninismus geglaubt haben und noch an ihn glauben. Als jedoch Chruschtschow 1956 in der Sowjetunion damit begann, die Verbrechen der Stalinzeit aufzudecken, begann auch ein ständiger „Glaubensschwund" gegenüber der offiziellen Lehre. Nach der Pensionierung Chruschtschows im Jahre 1964 wurde diese „Entstalinisie-rung" zwar gestoppt, aber der Zweifel am Marxismus-Leninismus fraß sich weiter wie eine Säure.

Eine Kampagne nach der anderen, eine verstärkte Schulung, eine Flut von Broschüren und Büchern bemühten sich vergeblich darum, den Marxismus-Leninismus aus seinem Zustand des Scheintodes wieder ins Leben zurückzurufen. Es gelang nicht. Gorbatschow hat das erkannt. Er hat auch erkannt, daß dieser Zustand zum fortschreitenden Verfall von Sitten und Moral beigetragen hatte.

Jeder wußte, daß die Führung sich bereicherte. Warum sollte man dann nicht auch Berichte fälschen, Staatseigentum stehlen, nach Gunst und Lage lügen und betrügen? Kaum noch ein Bericht über Wirtschaftsleistungen stimmte. Die Angaben über Jugendkriminalität veröffentlichte man vorsichtshalber überhaupt nicht mehr. Die Scheidungsziffern stiegen ständig, immer mehr Frauen überließen ihre Kinder den staatlichen Waisenanstalten, im Durchschnitt kamen auf eine Frau in der Sowjetunion sieben bis neun Abtreibungen.

Mit einer derartig demoralisierten Gesellschaft ließ sich auch keine Perestrojka durchführen. Denn die war nur möglich, wenn die ständige Betrügerei und Stehlerei aufhörte. In dieser Not erkannte Gor-

batschow, daß die Religionsgemeinschaften Voraussetzungen für die Perestrojka mitbrachten, die sonst kaum noch zu finden waren. Während die Religionsgemeinschaften gleichsam rehabilitiert wurden, setzte sich der Glaubensschwund gegenüber dem Marxismus-Leninismus fort. Im Rahmen von „Glas-nost" wurde die Vergangenheit umgegraben, und keiner der Vorgänger Gorbatschows blieb ungeschoren. Die politische Führung versuchte zwar, die Fehler und Verbrechen auf einzelne Personen abzuladen (vor allem auf Stalin und Breschnew), aber die Intellektuellen begnügten sich damit nicht.

Sie fragten nach der Verantwortung der Partei, sie fragten nach der „Wissenschaftlichkeit" des Marxismus-Leninismus. Die politische Führung unter Gorbatschow mußte nach und nach alle Jahrzehnte der Sowjetmacht zur Diskussion stellen, nur die Lenin-Zeit und den Leninismus wollte man aussparen. Aber die kritischen

Frager machten auch vor Lenin nicht halt. Inzwischen wird von Intellektuellen darauf verwiesen, daß Lenin mit dem Terror begonnen hat, die ersten Konzentrationslager anlegen ließ. Die sowjetische Jugendzeitung „Sobesednik" hat im April 1990 gewagt, ein Geheimschreiben Lenins vom 19. März 1922 zu veröffentlichen. In diesem Schreiben empfahl Lenin, möglichst viele „reaktionäre" Geistliche zu verhaften und zu erschießer.

In der Zwischenzeit hat sich die Kommunistische Partei in der Sowjetunion gespalten. Es gibt nicht nur kommunistische Parteien einzelner Nationalitäten, die sich nicht mehr von Moskau kommandieren lassen wollen. Es gibt auch im Zentralkomitee der Partei in Moskau drei unterschiedliche Flügel: den konservativen, den radikal-fortschrittlichen sowie einen mittleren, der von Gorbatschow angeführt wird.

Bisher liegt kein schlüssiger Text vor, der den Marxismus-Leninismus in seiner Fortschreibung anbietet. Das ideologische Leitorgan

„Kommunist" quält sich in jeder Nummer damit ab, wie der fortentwickelte Marxismus-Leninismus aussehen soll. Aber bisher ist es bei Allgemeiriplätzen geblieben wie: Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität, Gleichheit.

Angesichts dieser Situation fragen sich die Sowjetbürger nicht nur leise, sondern auch recht laut: „Woran sollen wir denn noch glauben?" Besonders laut fragen dies jene Untertanen, die nach dem Krieg - gegen ihren Willen - zu Sowjetbürgern geworden sind. Laut beklagt man in der Sowjetunion, daß zahlreiche Jugendliche nur noch nach ihrem Vergnügen, ihrem Einkommen fragen, aber kein Interesse an einer politischen Ausrichtung haben.

Es ist erstaunlich, daß sich auf dem XXVIII. Parteitag besonders die Streitkräfte und das KGB für die Beibehaltung der Politschulung eingesetzt haben. Der Fächer verschiedener politischer Gruppierungen reicht in der Sowjetunion in-

zwischen von russisch-chauvinistischen Gruppen bis hin zu liberalen Parteien. Nachdem die sowjetische Verfassung im Früh j ahr 1990 geändert worden ist, können sie um Anhänger werben.

Als zu Beginn des Jahres 1990 eine Diskussionsrunde über das Thema „Die Idee des Sozialismus und die Jugend" abgehalten wurde, waren sich die Teilnehmer einig darüber, daß der Marxismus-Leninismus sich in einer tiefen Krise befindet. Natalja Kosiowa, Mitarbeiterin am Institut für Philosophie bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR sagte: „Man fragt uns, was man tun muß, um den ins Schwanken geratenen Glauben an die Ideen des Sozialismus wiederzubeleben. Was denn, wollen wir wieder einen solchen unerschütterlichen Glauben? Muß man das Bewußtsein so manipulieren, daß er wiederersteht? Ich meine, der Zerfall des unerschütterlichen Glaubens ist gut. Ein Ideal ist nur dann normal, wenn es geboren wird als Ergebnis einer Auswahl."

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