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Des Jägers zweites Leben

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Der Eismensch ist ein absolut singulärer Fund. Die Konsequenzen für Anthropologie, Paläo-Medizin und eine Reihe angrenzender Wissensgebiete können noch nicht abgeschätzt werden.

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Der Eismensch ist ein absolut singulärer Fund. Die Konsequenzen für Anthropologie, Paläo-Medizin und eine Reihe angrenzender Wissensgebiete können noch nicht abgeschätzt werden.

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Aus Gräbern der späten Stein- und frühen Bronzezeit wurden unter den Grabbeigaben fallweise auch Gegenstände gefunden, bei denen es sich nach Ansicht zahlreicher Wissenschaftler um Tätowierungs-Utensilien handeln könnte. Deren Zweck aber trotzdem bislang als unbekannt gelten mußte. Die Tätowierungen des Toten aus dem Tiroler Gletschereis, ein Kreuz an der Innenseite eines Knies und parallele Striche auf dem Rücken, sind zumindest ein gewichtiges Indiz für die Richtigkeit der Vermutung.

Der Fund der Tiroler Eisleiche ließ sich gar nicht so vielversprechend an.

Es war von einem vielleicht fünfhundert Jahre alten Toten die Rede, ehe die Kunde vom vollständigen, wohlerhaltenen menschlichen Körper aus dem Übergang zwischen Stein- und Bronzezeit in die Öffentlichkeit drang. Auch die Bedeutung des möglicherweise 4.000 Jahre alten, so gut erhaltenen Körpers für die Wissenschaft wurde ratenweise erfaßt.

Wo immer der Tote letztlich „landet" - manche Untersuchungen, vor allem auf genetischem Gebiet, setzen internationale Zusammenarbeit voraus.

Der Mensch aus dem Tiroler Eis ist weltweit der bei weitem älteste chemisch unbehandelte unverweste Tote und etwa tausend Jahre jünger als die schlecht erhaltenen ältesten, noch nicht mit der späteren Perfektion konservierten ägyptischen Mumien. Er ist der einzige Mensch, der vor Jahrtausenden lebte, mit Kleidung, Ausrüstung und Schmuck aus dem Leben gerissen- wurde und uns so, wie er gelebt hatte, erhalten blieb. Gräber und Grabbeigaben gestatten immer nur indirekte Schlüsse auf den Alltag der Epochen, aus denen sie stammen.

Die Hoffnung, daß er je „Konkurrenz" bekommen könnte, ist gering, denn die Umstände, denen wir ihn verdanken, sind so etwas wie eine Serie von zwölfmal Rot oder Schwarz im Roulette. Die Eisschicht, die ihn später schützend umfing, begann sich erst Wochen oder Monate nach seinem Tod zu bilden. Wäre er gleich eingeschneit worden, hätten typische chemische Umwandlungsprozesse eingesetzt, an deren Ende wachsähnliche Substanzen stehen, die wissenschaftlichen Untersuchungen wesentlich ungünstigere Voraussetzungen bieten. Der Wind hatte Zeit, den Toten auszutrocknen, bevor ihn der Schnee zudeckte.

Dies ist freilich kein so exorbitanter Zufall wie die Tatsache, daß der prähistorische Wanderer ausgerechnet zwischen zwei quer zum Gletscherstrom verlaufenden Felsriegeln in einer Mulde zusammenbrach. Überall anders wäre der Körper im fließenden Eis spurlos zerrieben worden und allenfalls eines Tages sein Steinmesser und seine Axt aus Bronze am Fuß des Gletschers wieder zum Vorschein gekommen. Durch die Felsriegel entstand eine kleine Ruhezone im sich bewegenden Eis. Die meisten Leichen, die der Gletscher freigibt, sind wenige Jahrzehnte alt. Der Tiroler Steinzeitmensch ist die sechste Gletscherleiche dieses Jahres, alle anderen waren in unserem Jahrhundert verunglückt.

Er lag noch so da, wie er, vermutlich völlig entkräftet, vor Jahrtausenden zusammengebrochen war, nach vom gekippt, mit geöffnetem Mund. Er dürfte sich, kann man von den mit dem Fund befaßten Wissenschaftlern hören, auf seinen abgebrochenen Bogen gestützt, zuletzt nur noch mühsam weitergeschleppt haben. Dabei benützte er das Ende des Bogens, an dem die auf der anderen Seite fest angebrachte Sehne vor dem Schuß eingehängt wird, als Stock. Er hatte ihn noch in der Hand.

Was er da oben gesucht hat, wird man kaum je erfahren, doch gibt der Fundort an sich kaum Rätsel auf. Er starb östlich vom Hauslabjoch auf einem namenlosen Seitengletscher des Niederjoch-femers, zwar in 3.200 Meter Höhe, doch kaum eine Gehstunde von dem Weg entfernt, auf dem heute noch die Schafe über den Paß getrieben werden. Er kann, allein odermit anderen, in plötzlich einbrechendes Schlechtwetter geraten sein, kann sich im Schneesturm verirrt haben - eine Tragödie, die auch heute, trotz Bergrettung, noch vorkommt. Er kann aber auch, so Kenner der Gegend, falls er von Norden nach Süden unterwegs war, bei schlechter Sicht, etwa Nebel, eine Abzweigung zu früh den Weg verlassen haben und in ein steiles Gelände geraten sein, in dem er sich nicht weiterwagte. Vermutlich sind auf dieselbe Weise wie er in derselben Gegend im Lauf der Jahrhunderte viele Jäger, Hirten und Wanderer umgekommen.

Die Auswertung des Fundes könnte neue Methoden interdisziplinärer Zusammenarbeit nötig machen. Gerichtsmediziner zum Beispiel braucht man in der Urgeschichtsforschung selten. Sozusagea der erste Augenschein brachte bereits gewichtige Ergebnisse: Die durchaus bergtüchtige Ausrüstung, die heugefütterte Lederbekleidung, die Schuhe, das Feuerzeug (Feuerschwamm' und Feuerstein), das Steinmesser und die Bronzeaxt, die Schmuckperle, das Vorhandensein der Tätowierungen.

Lauter Dinge, auf die man bisher schließen, die man sich „ausrechnen", die man aber nicht verifizieren konnte. Dank dem Tiroler Fund ist es bereits jetzt möglich, ein sehr viel lebendigeres, wirklichkeitsnäheres Bild des Lebens in der späten Stein- und frühen Bronzezeit zu zeichnen als je zuvor.

Die weiteren Forschungsziele sind nur teilweise absehbar. Konkrete Fragestellungen könnten der Ernährung gelten. Die Untersuchung des Mageninhaltes ist dabei nur ein Teilbereich. Bestimmte prähistorische Skelettfunde lassen auf Phasen von Wachstumsschwierigkeiten auch bei hochgestellten Persönlichkeiten schließen (der „Fürst von Hochdorf' im heutigen Baden-Württemberg machte mindestens zwei durch). Ob auch der Eistiroler Hungersnöte durchgemacht hat, wird sich gewiß klären lassen. Allgemeiner Gesundheitszustand, Probleme mit Ungeziefer, durchgemachte Krankheiten-das sind die naheliegenden Fragen.

Die große Unbekannte heißt: Prähistorische DNS. Wenn es überhaupt möglich ist, die DNS-Sequenzen jahrtausendealter Körperzellen und damit die Veranlagung eines prähistorischen Menschen zu analysieren, dann bietet die Tiroler Eisleiche dafür die besten denkbaren Voraussetzungen. Weshalb eine der bedeutungsvollsten Fragen lauten muß: Wie kann man solche Körperzellen optimal für Forschungen konservieren, die heute noch nicht möglich sind, aber vielleicht in Jahrzehnten oder•Jahrhunderten möglich sein werden? Wie läßt sich eine solche Aufbewahrung im Hinblick auf Fehlervermeidung sinnvoll diversifizieren?

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