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Des Menschen Umwelt schuf der Totemismus

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Ich bin Schriftsteller. Da ich mich mit der Gegenwart beschäftige, muß ich mich mit dem Archetypus befassen. Wenn ich die im kollektiven Unterbewußtsein enthaltenen Motive und die Art ihrer Wirkung nicht kenne, bleibt mir ein tieferes Verständnis der Gegenwart versagt: In Unkenntnis der wichtigsten treibenden Kräfte menschlichen Tuns muß ich mich mit dem bloßen Schein begnügen. Der Schriftsteller, der die Wirklichkeit begreifen will, sollte die Zeichen der historischen Anfange auf apollinischem oder auf dyonisischem Wege deuten können, das heißt: bewußt oder instinktiv.

Die Beschäftigung mit diesem Gegenstand brachte es mit sich, daß ich Nummer 12 der sowjetischen Zeitschrift „Djekoratiwnoje Iskusstwo“ („Dekorationskunst“ - „Kunstgewerbe“) von 1976 zu lesen bekam. Erst jetzt Die kleine Verspätung störte nicht weiter, denn der Beitrag, den ich in dieser in Moskau herausgegebenen illustrierten Zeitschrift fand, befaßt sich mit Vorstellungen von Menschen, die vor vielen tausend Jahren gestorben sind, die aber die Begriffswelt unserer Kultur mitbestimmen. Die Zeitschrift „Kunstgewerbe“ gab eine ganz bestimmte Deutung der historischen Anfänge.

„Die Semantik der Frühzeit“, so hieß' ein Beitrag von Olga Michailowna Frendenberg, oder, etwas freier übersetzt: „Über die Zeichen, die uns die frühen Zeiten geben.“ Der wesentliche Teil der Ausführungen ist während der Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg verfaßt worden. Olga Michailowna, Jahrgang 1890, war damals Professor für klassische Phüo-logie an der Universität der früheren russischen Hauptstadt. Sie starb 1955. Ihr Nachlaß wird nun herausgegeben - und darin spiegelt sich ohne Zweifel ein bemerkenswerter Fortschritt auf dem Gebiet der sowjetischen Mythenforschung wider. „Einführung in die Theorie der antiken Folklore“ lautet der Titel der Studie, aus der die Zeitschrift „Kunstgewerbe“ wesentliche Teile zitiert. Die gesammelten Werke von Olga Michailowna Frejdenberg werden in der Sowjetunion demnächst unter dem Titel „Vorlesungen zur Theorie der Folklore“ erscheinen.

Worin aber liegt der Fortschritt gegenüber dem offenbar überwundenen Standpunkt der starren Dogmatik? In der Bereitschaft, von der Vorstellungswelt des mechanischen Materialismus abzurücken und die Wechselwirkungen von Wirklichkeit und Phantasie als eine dialektische Einheit zu begreifen, das heißt: nicht nur das Materielle, sondern auch das Geistige in seinen die Wirklichkeit bestimmenden Auswirkungen darzustellen.

Ich versuche nun, einige Theorien von Olga Michailowna Frejdenberg wiederzugeben.

IDas religiöse Weltbild der frühen Jägervölker ist der Tote-• mismus. Alle Blutsverwandten sind mit einem übernatürlichen Wesen verwandt, das die Erscheinung eines Tieres oder einer Pflanze hat Der Totemismus ist eine einheitliche Auffassung der Welt und zugleich ein Versuch, die Verschiedenheit der Stämme zu erklären und diese zu ordnen. „Diese Trennung und Aufteilung wird durch die frühesten Säulen zum Ausdruck gebracht, durch die aus hohen Steinen errichteten Menhire, in denen wir die Vorgänger der späteren Kolonnaden, Säulenreihen und Säulenformationen erblicken können. Mit den waagrechten Blöcken aber, die auf die senkrechten Säulen gelegt sind, entstehen die ersten Türen und Tore.“ Sie büden jenes bedeutungsreiche Symbol, das mit dem Wort „Tisch“ charakterisiert werden kann. Solche Tischplatten sind die bekannten Dolmen der Urzeit. Später können sie auch aus Holz oder aus Erde errichtet werden. Der Tisch ist ein metaphorischer Ausdruck des Himmels. Er dient nicht dem Speisen, wird aber zum Mittelpunkt der Nahrungsaufnahme, denn das aufgeteilte und verspeiste Totem (das Opfertier) ist eine Verkörperung des Himmels. Dieser „Himmel“ ist aber zugleich auch „Unterwelt“, denn der Tisch dient auch zur Aufbahrung der Toten. „Auch alle Vorhänge und Umhänge dienen der Metapher ,Himmel-Unterwelt', da sie die beiden mythischen Welten horizontal voneinander trennen, sie aber zugleich in Form eines Zaunes oder eines Tores auch vereinen.“ Aus dem Tisch entsteht der Altar.

2„Der Altar ist zuerst ein unbehauener Stein, eine Säule, eine * .Mastaba',' unbedingt auf eine Anhöhe gestellt. Oder er ist als Variation der Säule ein Tisch. Auf diesem Tisch wird das Opfertier tranchiert; aber der Tisch dient gleichermaßen auch dem brennenden Opfer und dem Brot. Aus der Säule und aus dem Tisch entsteht später die erste Küche, die erste Kirche und auch die Einrichtung des ersten primitiven Wohnortes. Das Ritual des Opferns ist es, das ursprünglich zum Vorgang des Kochens führt. So entsteht in der Epoche der Sippen der Herd, das spätere Familienheiligtum, diese Einheit von Tempel und Küche. Wir wissen auch, daß in der Lebensform jener alten Zeiten die Speisen in den Tempeln zubereitet und in der Nähe des Altars eingenqm-men wurden; wir wissen auch, daß bei den antiken Völkern das Speisen daheim eine dem Gottesdienst ähnliche Handlung war, und daß der Familienherd bei allen Völkern zum heiligen Symbol geworden ist. Wir sehen, es ist kein Zufall, daß Tisch, Küche, Kochen und Speisen für die Menschheit Begriffe geworden sind, die mit dem Tempel, mit dem Gottesdienst, mit den Heiligtümern zusammenhängen.“

In diesem Sinne ist auch das Zimmer ein Symbol des Kosmos. „Jeder Gegenstand hat seinen eigenen, im Raum abgegrenzten, vorbestimmten Platz. In der Mitte befindet sich der Himmel: der Tisch, zugedeckt, mit heiligmäßigen Tüchern geschmückt Himmelskörper auf dem Himmel sind Leuchter oder Kerzen, später die Lichter an den Decken der Theater und der Kirchen .. .Uber Türen und Fenstern gibt es Vorhänge... Auf Säulen stehen -wiederum ein Zeichen von Höhe! - die Schränke und Truhen. In ihnen befinden sich Abbildungen der Gottheit, später teure Gefäße. An der Wand ist der Platz der Unterwelt in Form von Kisten (später Geldkisten, Schatzkisten, deren Rolle erst in der Renaissance wirklich stark wird), von Tüchern bedeckt In der Nähe des Herdes: runde oder halbrunde Gefäße. So entsteht das innere Bild der Behausung, das Bild des späteren Atriums mit seinem Herd, mit seinem Tisch, mit seinen Kisten, zugleich aber auch das Bild des Tempels, des Theaters, der Küche und der Krypta.“

3In der Welt des Totemismus pflegten die räumlich (durch * den „Horizont“) und genetisch (durch das Totem) voneinander getrennten Menschengruppen ihre Verbindungen in einer ganz bestimmten, rituell vorbestimmten Art. Sie unterscheiden zwischen dem „Fremden“ und dem „Eigenen“. „Der Begriff der Verwandtschaft wurde dadurch bestimmt, daß man am kollektiven Aufteilen des Totems teilnehmen durfte... Wenn der .Ankömmling', der .Fremde' einen Anteü am aufgeteilten Totem bekam, konnte er sich mit diesem vereinen und gehörte selbst ebenfalls zum Stamm. So wurde der .Gast', der ursprünglich ein .Fremder' war, zum .Freund'.“

Die Grenze zwischen zwei Stämmen oder menschlichen Siedlungen ist bereits in prähistorischer Zeit ein Ort wichtiger Handlungen gewesen. Offenbar daraus folgt auch die spätere fast sakrale Bedeutung der Grenzsteine. An der Grenze, am Grenzrain hat sich auch der alte Ritus der Aufnahme in den Stamm abgespielt und aus diesem sind die ursprünglichen Formen des Tausches und des Handels entstanden.

Der archaische Austausch der Gegenstände hatte keine primär wirtschaftliche Bedeutung: Wichtiger war der Austausch der Substanzen, die den Gegenständen innewohnten. „Die abgebrochenen Stücke, die Fragmente, die Teile eines Gegenstandes konnten in bestimmten Fällen als Zeichen der Verwandtschaft dienen (Verbrüderung), in anderen Fällen hatten sie die Funktion von Geld. Indem man die Substanz der Gegenstände austauschte (als Übergang vom Begriff des .Fremden', des .Feindes' zum Begriff des .Freundes'), mußte das Totem aufgeteilt werden. Als Totem-Geld konnte irgendein Tier dienen-so wird die Genesis der aus Leder, aus Pelz, aus Fisch bestehenden Zahlungsmittel verständlich. Es konnte auch ein Gegenstand sein, der aufgeteilt worden ist (auf Russisch: rublennije - rubli -Rubel), etwa Glas, Metall, Perle, Muschel, aber es konnten auch andere Gegenstände als Geld benützt werden, hauptsächlich, wenn sie eine runde (kosmische) Form hatten. (Der Gegenstand als Kosmos: Viele Beschreibungen dieser Art sind uns geblieben über all die künstlerisch gestalteten Gegenstände, die das archaische Weltbild spiegeln.)

4„Die archaische Form des Tausches - als Ausdruck des stän-• digen Stellenwechsels zwischen Himmel und Unterwelt - hat auch im Entstehen der Waage und des Glücksspieles (des Spielwürfels) eine Rolle gespielt Zeus legt das Schicksal, das Leben und den Tod in goldene Waagschalen (Gold ist die Farbe der Sonne). So erscheint der Kaufmann ursprünglich als der ,Jliehter“, der die Dinge richtig abwägen und also urteilen kann.“

Es lohnte sich, noch weitere Theorien und Hypothesen von Olga Michailowna Frejdenberg zu zitieren. Zum Beispiel: die Interpretation der archaischen Totenfeier als Beschwörung der Vitalität, denn im Zweikampf wird symbolisch der Kampf zwischen Sommer und Winter, Tag und Nacht, Himmel und Unterwelt dargestellt... Hier noch eine Folgerung aus dem Werk der sowjetischen Forscherin: „Der Totemismus ist die konzentrierte Vorgeschichte, ist das Fundament der späteren Kulturen. Er macht wie auf einen Schlag alles erkennbar, danach aber versteckt er sich. Die Kultur beginnt von neuem und variiert in der Zeit und in der Kausalität alles, was bereits auch früher existiert hat. Alle neuen Systeme des Bewußtseins eröffnen neue und abermals neue Erklärungen der realen Welt, aber die Materie selbst und die Prinzipien ihres Aufbaues bleiben die gleichen.“

In „Djekoratiwnoje Iskusstwo“ ist auch ein Photo von Olga Michaüowna zu sehen. Ein vergilbtes Photo. Da sitzt sie in einer weißen Bluse und im halb-larfgeri Rock nachdenklich vor einem Bücherschrank. Seit mehr als zwei Jahrzehnten lebt sie nicht mehr. Ihr Werk wirkt nun weiter, in der Sowjetunion ...

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