7049026-1990_45_10.jpg
Digital In Arbeit

Destruktive Kulte

Werbung
Werbung
Werbung

Spätestens im November 1978, als über 900 Angehörige der Sekte "Tempel des Volkes" auf Befehl ihres Anführers Jim Jones in Guyana kollektiven Selbstmord verübten, hätte unsere Gesellschaft begreifen müssen, daß da eine tödliche Seuche immer bedrohlichere Formen annimmt: die Seuche der Sekten oder, wie man sie präziser bezeichnet, der "destruktiven Kulte".

Unsere Gesellschaft hat es noch nicht begriffen. Gerichte nehmen noch immer diese Kulte mit Hinweis auf die Religionsfreiheit in Schutz, wenn verzweifelte Eltern sich gegen die psychische und viel-fach auch physische Zerstörung ihrer Kinder wehren. Kirchliche Referenten für Weltanschauungs-fragen raten diesen Eltern, auf kei-nen Fall etwas gegen die Kulte zu unternehmen, und sagen gelegent-lich vor Gericht für die Kulte und gegen die Eltern aus. Im neuerschie-nenen "Lexikon der Sekten, Son-dergruppen und Weltanschauungen" (Herder, 1990) kommt der Ausdruck "destruktiver Kult", in den USA längst ein feststehender Begriff, nicht einmal als Stichwort vor. Ein kleines Kapitel ist dort der sogenannten "Psychomutation" gewidmet, wo treuherzig versichert wird, den möglichen negativen Folgen einer solchen stünden ja doch auch positive Erfolge gegen-über, und außerdem seien sich die Psychiater noch nicht einig, ob diese Persönlichkeitsveränderungen auf "Regression" (Zurückfall in ein kindliches Entwicklungsstadium) oder auf Neurotransmitterproble-me zurückzuführen seien.

Die Psychiater, vor allem jenseits, aber auch zumindest einige diesseits des Atlantik, wissen längst, was gespielt wird.

Friedrich Hacker: "Heute können Menschen gezwungen oder manipuliert werden, das, was sie gemäß dem Willen ihrer Manipula-teure und Zwingherren tun und unterlassen müssen, scheinbar freiwillig zu tun und zu unterlassen. Denn nicht nur äußeres Verhalten und innere Gedanken und Gefühle sind steuerungsfähig, sondern auch vor allem der in der intimsten Persönlichkeitssphäre angesiedelte freie Wille, das Erlebnis der Freiwilligkeit..." (1).

John G. Clark: "Eine Funktions-störung des Zentralnervensystems, die eine die Substanz angreifende Schädigung verursacht, in deren Folge eine Veränderung des Be-wußtseins, der Stimmungslage, des Erinnerungs- und Wahrnehmungs-vermögens, der Orientierung oder der Fähigkeit, die Wirklichkeit richtig einzuschätzen, auftritt... Dieses gesamte Material brachte die end-gültige Bestätigung, daß das be-deutendste Phänomen, das unter-sucht werden mußte, das des schwerwiegenden Zerfalls der Bewußtseinszusammenhänge war sowie deren systematische Auf-rechterhaltung und pathologische Folgen..." (2).

Wie bringt man nun einen gesun-den, jungen Menschen dazu, sich einer solch zerstörerischen Macht anzuvertrauen? Die Technik, bei allen destruktiven Kulten etwa die gleiche, ist einfach anzuwenden und setzt bloß genügende Skrupellosig-keit der Manipulatoren voraus, eine Skrupellosigkeit, vor der jeder "gewöhnliche" Mensch zurück-schrecken würde. Die ehrliche Werbung alten Stils, wie sie zum Beispiel noch die Zeugen Jehovas anwenden, ist längst passe\ Man sagt nicht mehr, wer man wirklich ist, man ist einfach "eine Bibelrun-de" oder "ein Freundeskreis".

Meist wird mit Erweisen einer ungewöhnlichen Zuneigung, dem sogenannten "love bombing", be-gonnen, besonders wirksam natür-lich, wenn junge Männer auf Mäd-chen und umgekehrt angesetzt werden ("flirty fishing"). Dann werden unter dem Vorwand, durch besonders heroische Haltung ethi-schen Aufstieg zu erreichen, Schlaf -und Nahrungsentzug einprogram-miert - die besten Mittel, um den klaren Verstand und den freien Willen auszuschalten und offenbar physiologische Vorgänge einzuleiten, die zusammen mit ständiger weiterer Indoktrination zu der schon erwähnten Persönlichkeits-veränderung führen.

Wem das zu theoretisch klingt, dem sei es ah einigen Beispielen vorgeführt:

Michael N. war ein begabter Schüler, der außerdem noch sehr musikalisch war. Seine Eltern fan-den nichts daran, daß ihr Sohn mit Peter K., dem Sohn eines Arztes, befreundet war. Peter bewog seinen Freund, nach der Matura mit ihm zusammen Medizin zu studieren, und lud ihn außerdem zu Ver-sammlungen der Sekte der "Nor-weger" oder "Smithianer" ein. Das Resultat war, daß Michael zuerst die Musik an den Nagel hängte (weil nach Ansicht der Sekte alle Künstler moralisch minderwertig sind), und bald dann auch das Studium aufgeben mußte, weil er psychisch dazu nicht mehr in der Lage war. Michael werkte dann in einem Supermarkt als Flaschenstapler, hat sich vor etwa zwei Jahren glück-licherweise von der Sekte getrennt, erholt sich aber nur langsam wieder und macht seinen Eltern bittere Vorwürfe, daß sie ihn nicht früher dort "herausgeholt" hätten.

Meine Tochter Wiltrud war bis zu ihrem 20. Lebensjahr ein normaler und gesunder Mensch. Dann wurde sie - ebenfalls durch Peter K. - für die Sekte geworben. Daraufhin war sie mehrmals - natürlich erfolglos -in psychiatrischer Behandlung. Sie hat mich über ein Jahr lang geohrfeigt, angespuckt und mir Fußtritte gegeben, und zwar nicht aus Haß, sondern aus Angst, ich könne nicht "gerettet" werden, wenn ich mich nicht ihrer "Gemeinde" anschlösse oder zumindest glaubte, daß Gott die Welt in sechstausend Jahren erschaffen habe...

Solveig B. stach sich mit einer Schere die Augen aus, in wörtlicher Befolgung eines bekannten Bibel-wortes (Mt. 5,29), und verblutete.

Weitere Beispiele aufzuzählen, ist hier kein Platz. Ich hoffe aber, dargelegt zu haben, daß verantwor-tungsvolle Zeitgenossen dem Phä-nomen "destruktive Kulte" nicht mehr gleichgültig gegenüberstehen sollten.

Beratung und Information bietet der "Verein zur Wahrung der gei-stigen Freiheit - Gesamtösterrei-chische Elterninitiative", A-1020 Wien, Obere Augartenstraße 26-28, Tel. (0222) 33 75 37.

Angeführte Literatur:

(1) Friedrich Hacker, Freiheit, die sie meinen, Hoffmann und Campe, 1978.

(2) John G. Clark, Der künstlich gesteuerte Wahnsinn, aus: Neue Jugendreligionen, Vorträge und Berichte einer Fachtagung über Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten Ju-gendreligionen am 23./24.2.1978 in der Medizi-nischen Hochschule Hannover, herausgegeben von Manfred Müller-Küppers und Friedrich Specht, Verlag für Medizinische Psychologie, Göttingen, 1979.

Weitere Literatur (Auswahl):

Steven Hassan, Combatting Cult Mind Con-trol, Park Street Press, 1988

Hans Joachim Rosina, Faszination und Indok-trination, Beobachtungen zu psychischen Mani-pulationstechniken in totalitären Kulten, Doku-mentations-Edition 16 der Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen, München, 1989.

Flo Conway und Jim Siegelman, Snapping, Amerikas Epidemie der plötzlichen Persönlich-keitsveränderung, Delta-Buch, 1979.

Rosmarie Gerber und Artur K. Vogel, Du mußt nur deinen Kopf abgeben, Jugendsekten und totalitäre religiöse Gemeinschaften in der Schweiz, Unionsverlag Zürich, 1984.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung