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Detente ohne Salt?

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Die intensive Diskussion über Erfolg und Mißerfolg der amerikanischen Detentepolitik gegenüber der Sowjetunion berührt im allgemeinen bloß die Oberfläche der zwischenstaatlichen Beziehungen. Alle die oft analysierten Fragen, wie Handelspolitik, das Problem der Emigration aus der Sowjetunion, die umstrittene europäische Sicherheitskonferenz, ja selbst die explosiven Nahostprobleme, sind eigentlich bloß Sekundärerscheinungen, an denen sich der Stand der zwischenstaatlichen Beziehungen kaum messen läßt. Der wahre Prüfstein ist die atomare Rüstungspolitik, denn wirkliche Entspannung kann es nicht geben, wenn beide Supermächte mit dem Finger am Abzug der Atomwaffen leben.

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Die intensive Diskussion über Erfolg und Mißerfolg der amerikanischen Detentepolitik gegenüber der Sowjetunion berührt im allgemeinen bloß die Oberfläche der zwischenstaatlichen Beziehungen. Alle die oft analysierten Fragen, wie Handelspolitik, das Problem der Emigration aus der Sowjetunion, die umstrittene europäische Sicherheitskonferenz, ja selbst die explosiven Nahostprobleme, sind eigentlich bloß Sekundärerscheinungen, an denen sich der Stand der zwischenstaatlichen Beziehungen kaum messen läßt. Der wahre Prüfstein ist die atomare Rüstungspolitik, denn wirkliche Entspannung kann es nicht geben, wenn beide Supermächte mit dem Finger am Abzug der Atomwaffen leben.

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Das Hauptbestreben des Kissin-ger-Besuches in Moskau war daher auch die Einigung auf eine zumindest prinzipielle Formel über die Limitierung der Entwicklung und Herstellung atomarer Angriffswaffen, Eine solche grundsätzliche Einigung sollte die Grundlage für ein Spitzentreffen mit Präsident Nixon im Juni in Moskau bilden. Ob diese Formel gefunden wurde, werden die nächsten Wochen enthüllen. Im Augenblick scheinen beide Seiten den Inhalt der Moskauer Gespräche mit ihren strategischen Planern zu analysieren.

Diese für die Zukunft der Welt-politik so entscheidenden Gespräche sind eine Fortsetzung des dm Mai 1972 erreichten Abkommens über die Abgrenaung der zu Verteidigungs-zwecken geschaffenen Raketensysteme, kurz SALT I genannt. Es scheint im ersten Augenblick unlogisch, daß man bei der Suche nach Entschärfung der militärischen Spannungen zunächst den Abwehrsektor bearbeitet und den Angrdffs-waffen ungehemmte Entwicklung konzediert hat. Aber Verhandlungen dieses vitalen Charakters gehen meistens den Weg des geringsten Widerstandes und überdies verringert die Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten den Appetit zum Angriff.

Das erste SALT^Abkommen gestand den USA 1000 am Festland stationierte Atomraketen und 710 von der See, das heißt von Schiffen aus feuerbare Projektile zu. Der Sowjetunion dagegen waren in diesem Abkommen 1410 Fes'tlandsrake-ten und 950 auf Schiffen stationierte eingeräumt. Das sieht zunächst wie eine Konzession an die Sowjets aus, ist es aber nicht. Denn die amerika-niscban Bombengeschwader (450 amerikanische Atombomber gegen 130 sowjetische) blieben außerhalb des Abkommens. Auch hat SALT I die Entwicklung der neuen Generation von lenkbaren selbständigen Sprengkörpern nicht berührt, die von einer Zentralrakete aus gefeuert werden können. Die USA besitzen hier einen bedeutenden Vorsprung: Sie planen bis 1977 10.000 solcher Sprengkörper herzustellen, während die Sowjets erst vor kurzem den ersten Prototyp erprobt haben.

Man sollte meinen, daß eine derartige Ballung von Zerstörungskraft auf beiden Seiten einen Saturie-rungseffekt hätte und ein Abkommen über die Limitierung von Angriffswaffen erleichtern würde. Dem ist aber nicht so. In der Atom-waffentechnik spiegelt sich der allgemeine Stand der technologischen Entwicklung einer Weltmacht wider, und die Sowjetunion kann nicht leicht den technologischen Vorsprung der Amerikaner bei der Erforschung des Weltraumes oder auf dem industriellen Sektor ohne gewaltige Anstrengungen im militärischen Bereich hinnehmen. Die marxistische Ideologie in ihrer heute in der Sowjetunion praktizierten Form reicht sicherlich nicht aus, um ein Empire zusammenzuhalten, das sich von den Grenzen Chinas bis an die Elbe erstreckt. Konventionelle Waffen, von Truppen geführt, die sich aus Nationen rekrutieren, von denen manche noch nicht einmal eine Generation lang unter sowjetischer Herrschaft leben, sind auch kein absoluter Sicherheitsfaktor. Schließlich ist die sowjetische Atommacht auch das Rückgrat ihrer Beziehungen zu anderen Staaten, nicht zuletzt im Nahen Osten.

Ebenso wichtig ist es für die USA, sich in diesem Atomrennen zu behaupten. Eine Demokratie kann sich weniger auf Truppen verlassen, die im zunehmenden Maße vom Streben nach immer höheren Formen des Konsums ihren Verteidigungspflichten entfremdet werden.

Die Zukunft der westeuropäischen „Klientel“ hängt fast ausschließlich vom amerikanischen Atomschirm ab. Er ist die einzige Gewähr für die Erhaltung eines freien politischen und wirtschaftlichen Systems. Man wird daher auch die Ausbrüche von Empörung seitens der amerikanischen Führer verstehen, die sieh von manchen europäischen Staaten hin-'tergangen fühlen, während sie mit den Sowjets über strategische Verteidigungskonzepte, die den gesamten Westen betreffen, verhandeln.

Schließlich geht es für beide Großmächte um die Sicherheit einer ausreichenden Versorgung mit den immer spärlicher werdenden Rohstoffen dieser Welt.

Die Detente hängt daher von der Entwicklung des Atomrüstens ab. Eine Zeitlang kann man sich mit Kompromissen in Sekundärbereichen behelfen, letztlich sind aber Rüstungskompromisse notwendig.

Ist es bereits so weit? Kann die Erkenntnis, daß eine Weiterentwicklung des Wettrüstens nicht nur beide Supermächte in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten stürzt, sondern auch die Weltsicherheit gefährdet, das den beiden Systemen eingebaute Mißtrauen überwinden?

Es gibt also trotz aller im Augenblick noch 'unglaubwürdig scheinenden Überlegungen schon eine gewisse Logik, auf Grund deren das Wettrüsten eingestellt werden sollte.

Wie aber soll die Quadratur des Kreises gelöst werden? Wie stellen sich die beiden Protagonisten SALT II vor? Die Sowjets fürchten die technologische Führung der Amerikaner, ihre in Europa stationierten Bombengeschwader und ihren Vof-sprung in der Entwicklung atombetriebener U-Boote, die als Raketenträger verwendet werden können. Die Amerikaner wieder fürchten die zahlenmäßige Überlegenheit sowjetischer landgebundener Raketen und deren Zerstörungskraft. Auf einen sowjetischen Präventivangriff auf die amerikanischen landgebundenen Raketensilos könnten die Amerikaner „nur“ mit einem Gegenisohlag gegen sowjetische Bevölkerungszentren von der See aus antworten: ihre eigenen Städte wären dann den numerisch überlegenen sowjetischen Raketen ausgesetzt. Die Amerikaner bemühten sich daher — bisher erfolglos — um eine Reduzierung sowjetischer Raketen, ohne dabei ihre eigene technologische Führung aufs Spiel setzen zu müssen. Diese Verhandlungen kamen begreiflicherweise nicht vorwärts. Niemand kann seine Trumpfkarten im Spiel um die Sicherheit seiner Bürger aus der Hand geben.

Die Sowjets wiederum versuchten ein Konzept durchzudrücken, das ihre numerische Überlegenheit an Raketen auf Dauer garantieren soll. Es sollte den Amerikanern verwehren, neue Angriffssysteme zu entwickeln, ihnen selbst jedoch die Herstellung von vier neuen Typen konzedieren, die sie kürzlich erprobt haben. Weiters sollen die Amerikaner ihre U-Boot-Stützpunkte in Schottland und Spanien aufgeben und ihre Atombomber aus Europa abziehen. Denn die Russen fürchten die Entwicklung schwer oder kaum kontrollierbarer Raketen, die von Flugzeugen abgefeuert werden können.

In den USA vermutet man, die Sowjets wollten Nixons Wunsch nach einem großen außenpolitischen Erfolg ausnützen und überschätzten dabei die Möglichkeiten eines Präsidenten, Verträge von so weitreichender Bedeutung über den Kopf des Kongresses und der Militärs hinweg zu unterzeichnen.

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