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Deutsche Geisterbahn

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In diesen Tagen verhandelt Österreichs Außenministerium mit Vertretern der Deutschen Demokratischen Republik; das Ziel: die volle diplomatische Anerkennung der DDR durch Wien.

Am 21. Dezember wird in Ost-• Berlin der sogenannte Grundvertrag zwischen den Regierungen der deutschen Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik abgeschlossen. Es ist der Stichtag für die weitere und endgültige Bereinigung der Folgen des zweiten Weltkrieges, es ist für Mitteleuropa jener Tag, an dem Bismarcks Deutsches Reich endgültig zu Grabe getragen wird: es hat nur 100 Jahre gehalten.

Der Grundvertrag wird vielen Deutschen im Staatsverband der Bundesrepublik und den Bewohnern der ehemaligen Westsektoren der deutschen Stadt Berlin einen Weihnachtsbesuch im sozialistischen Deutschland ermöglichen. Weihnachten 1972 — also ein deutsches Familienfest?

Österreichs Außenminister hat die Anerkennung Ost-Berlins schon seit längerem angekündigt; der Schritt Wiens Ist sohin weder international noch in Österreich eine Sensation, wird doch nach dem 21. Dezember eine Welle der Anerkennung für Ost-Berlin einsetzen; und dem Vernehmen nach bereitet das künftige diplomatische Korps der Stadtverwaltung der Hauptstadt der DDR hinsichtlich der Unterbringung derzeit das größte Kopfzerbrechen.

Hier soll nun der Schritt Wiens an sich nicht mehr erörtert werden; Österreich treibt Ankündigungsdiplomatie mit Zugzwang. Das bedeutet zum ersten nicht gerade eine Erleichterung für die Verhandlungen mit der DDR. Immerhin geht das österreichische Vermögen zwischen Ostsee und Thüringer Wald in die Millionen; immerhin taucht die Frage auf, was mit österreichischen Forderungen geschieht; und schließlich geht es auch um den Rahmen für eine DDR-Botschaft in Wien.

Neben dieser Verengung des Verhandlungsspielraums muß aber vor allem konstatiert werden, daß Österreichs bisherige Deutschlandpolitik fast lückenlos von den Bonner Wünschen und Interessen bestimmt war. Was selbst für die engsten westlichen Bündnispartner der Bundesrepublik nicht zutraf, galt für das neutrale Österreich. Es muß nicht darauf verwiesen werden, daß eine solche Synchronisation gerade in Österreich historische Hypotheken und Ressentiments erhalten könnte.

Aber das Faktum bleibt letztlich erfreulich: der Grundvertrag läßt im Hinblick auf die an ihn geknüpften Erwartungen die Hoffnung auf eine „neue Qualität des Friedens in Europa“ zu, wie das Bundeskanzler Brandt kürzlich formuliert hat. Sie deckt sich nahtlos auch mit dem Zementierungswunsch einer Pax americana-sov.ietica und ist Teil der Nixon-Strategie, für die Henry Kissinger zum Metternich eines atomaren Vormärz wurde.

Allerdings überlegt man sich jetzt auch in Washington die Politik, die ein US-Botschafter in Ost-Berlin zu exekutieren hat. Einen gewissen Aufschluß gibt da ein Beitrag in der renommierten Zeitschrift „Foreign Affairs“ über die DDR von einem der engsten Mitarbeiter Henry Kissingers, Livingstone, der auch im

Sommer bereits mit DDR-Vertretern zusammentraf. Für diese Überlegungen ist ein „verdünntes Mitteleuropa“ Bestandteil der Status-quo-Strategie. Und just zu diesem Zeitpunkt platzt das Interview, das der Ostberliner Parteichef Erich Honecker dem bedeutenden US-Publizisten der „New York Times“, Sulz-berger, gewährte. Sulzbergers brisante Fragen aber signalisieren in diesem Zusammenhang Übereinstimmung mit Überlegungen im State Department.

Sulzberger fragte am 22. November 1972 Honecker: „Glauben Sie, daß es möglich sein wird, eine Art von Konföderation zwischen der DDR und der Bundesrepublik zu schaffen, in der jedes Land seine Unabhängigkeit behält, seine Ideologie und sein politisches System bewahrt und seine eigene Außenpolitik und Verteidigung besitzt? ... Wenn eine solche Konföderation möglich wird, wird es dann wünschenswert, daß auch Österreich eingeladen wird daran teilzunehmen — als unabhängiger Staat, der seine eigene Regierung, seine eigene Ideologie, Außenpolitik und Verteidigung hat?“

Erich Honecker antwortete darauf nicht direkt. Vielmehr endet seine Antwort mit dem Satz: „Und es ist ein Glück für die Welt, daß die DDR besteht.“

Das Interview, das die Weltpresse ausführlich zitierte, wurde in Österreich nicht kommentiert — was den Wiener Korrespondenten der „Zürcher Zeitung“ zur allgemeinen Feststellung bewog, daß dies einmal mehr zeige, „wie dürftig das Interesse an außenpolitischen Fragen hierzulande in Wirklichkeit ist“.

Liest man aber das Frage-Antwort-Spiel der Herren Sulzberger-Honecker, so kann selbst jemand, der nicht an Gespenster glaubt, eine Gänsehaut nicht verleugnen. Was da wie in einer Geisterbahn spukt, läßt daran zweifeln, daß die Nationalitätsproblematik der Deutschen spätestens 1945 abgehandelt wurde.

Man muß in diesem Zusammenhang auch die höhexe Philosophie der Ostpolitik der Bonner Regierung ins Kalkül ziehen. Um Ostverträge und Grundvertrag über die Hürde der westdeutschen Verfassung zu heben, explizieren Willy Brandt und Walter Scheel ja einen fiktiven Nationsbegriff, der die deutschen Staaten nach wie vor sozusagen quasi überspannt. Und Bonns Beteuerung, daß die Bürger der DDR keine Ausländer seien, wird schon in Kürze die Termini der „Deutschen Kulturnation“, des „Deutschtums“ unabhängig von allen Grenzen wieder lebendig machen; aber hat nicht schon Grillparzer den Vertragsparteien von 1866 zugerufen: „Ihr glaubt, ihr habt ein Reich geboren — und habt doch nur ein Volk zerstört“?

In solcher Dimension lesen sich Grundvertrag, DDR-Anerkennung und eine mitteleuropäische „Friedensqualität“ ein wenig differenzierter. Aber man muß nicht einmal die Geschichte strapazieren, um aktuell zu sein: für den ostdeutschen Außenminister Winzer gibt es (nach einer kürzlich abgegebenen Erklärung) eine arabische Nation; diese Nation lebt in mehr als zehn souveränen Staaten.

Und die deutsche?

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