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Deutsche „zweiter Klasse"

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FURCHE: Vor zwei Jahren verschmolz die DDR mit der BRD zu einem gemeinsamen Wirtschäfts- und Währungsraum. Was hat das für die Bürger des ehemaligen anderen Deutschland gebracht?

KLAUS PETER GERHARDT: Mit dem 2. Juli 1990 endete die, wie wir heute wissen, völlig verfehlte Wirtschaftspolitik der Staatspartei SED. Mit der Überwindung des wirtschaftlichen Chaos werden wir noch über Jahre beschäftigt sein. Neben den für eine funktionierende Wirtschaft notwendigen Investitionen müssen sich neue Arbeitshaltungen herausbilden. Vierzig Jahre lang war Arbeit in der DDR vornehmlich Mangelverwaltung. Jetzt kommt es darauf an, Produktivität und Kreativität einzusetzen. Das führt zu einem großflächigen Lernprozeß, bei dem durchaus nicht alle Menschen im arbeitsfähigen Alter ihren Platz finden.

Schwierig wird der noch lange nicht abgeschlossene Prozeß dadurch, daß mit der sozialen Marktwirtschaft bisher ungekannte soziale Unsicherheiten in die fünf Länder der ehemaligen DDR gekommen sind. Früher saßen die Arbeitslosen in den Betrieben und bekamen dafür, daß sie durch Materialmangel und schlechte Arbeitsorganisation am Arbeiten gehindert wurden, ihr Geld. Heute stehen die Arbeitslosen auf der Straße und müssen mit der Erfahrung fertig werden, nicht gebraucht zu werden. Denn die auf Überproduktion orientierte westdeutsche Wirtschaft ist ohne weiteres in der Lage, den Bedarf an Gütern in den neu hinzugekommenen deutschen Ländern abzudecken.

FURCHE: Werden durch diese Entwicklungen die ehemaligen Bürger der DDR zu Deutschen zweiter Klasse?

GERHARDT: Diese Gefahr besteht und wird von vielen deutschen Neubürgern so gesehen. Sie müssen gleichsam das Laufen in einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft erst lernen. Unter DDR-Verhältnissen wurde ihnen jede eigene Entscheidung abgenommen oder zumindest vorgeschrieben. Jetzt muß jeder selbst für seinen Platz in der Gesellschaft streiten. Das bedeutet Kampf um den Arbeitsplatz, die Sorge, daß die Kinder zwischen den vielfältigen Ausbildungsmöglichkeiten die richtige Wahl treffen und auch die latente Gefahr, unverschuldet Wohn-und damit Lebensraum zu verlieren.

Ich habe manchmal den Eindruck, daß die Politiker in Bonn vor lauter Sorge um die durch den deutschen Einigungsprozeß verursachten Kosten keinen Gedanken daran verschwenden, was den Ostdeutschen mit dieser Einigung zugemutet wird. Die Formel von den „Kosten der Einheit" ist falsch. Das, was mit viel Mühe aufgebracht werden muß, sind die Kosten für vierzig Jahre Mißwirtschaft. Wobei die Bonner Politiker häufig vergessen, daß sie durch Kreditvergaben diese Mißwirtschaft und damit das Unrechtsregime nach Kräften am Leben gehalten haben. Spätestens Anfang der achtziger Jahre hätte die DDR in Konkurs gehen müssen, wenn es nicht die Transitpauschalen, die großzügigen Überziehungskredite (Swing), die Einkünfte aus dem schändlichen Menschenhandel und zum Beispiel die großzügige Milliar-denspende von Franz Josef Strauß gegeben hätte.

FURCHE: Führt diese Verunsicherung der Bürger in den neuen Bundesländern zum Zulauf zu Jugendreligionen, rechtsradikalen Gruppierungen und zu einer Sehnsucht nach der ordnenden Kraft der SED beziehungsweise ihrer Nachfolgepartei PDS?

GERHARDT: Das Denken war dem Bürger in der DDR weitgehend abgenommen. Da wundert es nicht, wenn jetzt Angebote akzeptiert werden, die in gleicher Weise geschlossene Denksysteme anbieten, pseudoreligiöse Heilserwartungen versprechen und den einzelnen wiederum entmündigen. Aufregend ist, daß eine nicht geringe Zahl Jugendlicher, die die sozialistische Erziehung und deren angemaßten Antifaschismus erfahren haben, jetzt zum willfährigen Potential für Rechtsradikale und neofaschistische Rattenfänger werden. Die PDS ist eine an eingeschriebenen Mitgliedern kleine Partei, konnte aber in den jüngst zurückliegenden Wahlen zum Beispiel für die Kommunalparlamente in Berlin einen unverhältnismäßig hohen Zulauf verzeichnen. Hierin drückt sich das mangelnde Vertrauen in die demokratischen Parteien aus. Allerdings machen es die demokratischen Parteien besonders auch den Ostdeutschen nicht immer leicht, vor lauter Parteienfilz, Postenschieberei und Pfründenwirtschaft ihre tatsächliche demokratische Kraft in der Gesellschaft zu sehen.

FURCHE: Bei allen wirtschaftlichen Problemen scheinen die ehemaligen DDR-Bürger mit den Opfer-Täter-Diskussionen anhand der Stasi-Unterlagen beschäftigt zu sein.

GERHARDT: Hierfindet statt, was der Schriftsteller Günter Kunert schon kurz nach der Wende mit der Befürchtung umschrieben hat, daß die Feldmäuse gejagt werden, während die Platzhirsche unbehelligt bleiben. Die Geschichte des SED-Staates muß in all seinen Auffächerungen genau untersucht werden. Es ist die Aufgabe aller Beteiligten, nicht nur der Historiker, die Strukturen der Machtausübung durch die Staatspartei offen zu legen. Dabei wird es sich auch als notwendig erweisen, die tatsächlich Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen.

Klaus Peter Gerhardt, geboren 1937, ist Journalist und Theaterwissenschaftler. Das Gespräch führte Helmuth A. Niederle.

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