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Deutsches Lavieren

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Staatssekretär Rehlinger vom Ministerium für innerdeutsche Beziehungen geriet sichtlich ins Schwitzen. Soeben hatte er die ersten Pressemeldungen über die Flucht einer Familie in die deutsche Botschaft in Prag auf den Tisch bekommen.

Was ihn zum Schlucken veran-laßte, war zweierlei: erstens, daß der Vorgang überhaupt bekannt geworden war, zweitens, daß es sich um die Familie der Nichte des DDR-Ministerpräsidenten Stoph handelte. Wenn das so weitergehe, so seine Befürchtung, komme wohl doch bald der große Frosteinbruch in die innerdeutschen Beziehungen.

Die Sorgen des Staatssekretärs hatten ihren Grund. Als die Stoph-Nichte vor wenigen Wochen ihren spektakulären Schritt tat,|um die Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen, war das der dritte aufsehenerregende Fall dieser Art in kurzer Zeit. Nicht lange vorher hatten sich sechs junge DDR-Bürger in der amerikanischen Botschaft in Ost-

Berlin verschanzt und forderten die Genehmigung zur Ubersiedlung in den Westen.

Ohne großes Aufhebens ließ DDR-Staatschef Erich Honecker über seinen in derlei Angelegenheiten tätig werdenden Vertrauten und Anwalt Rudolf Vogel die

Sache bereinigen: Die sechs durften ausreisen.

Die Aufmerksamkeit jedoch, die dieser Fall in den westlichen Medien fand und damit auch in der Arbeiter- und Bauernrepublik (weil fast die gesamte DDR West-Fernsehen und -Rundfunk empfängt),regtedrübenzur Nachahmung an. 80 Besetzer von westlichen diplomatischen Missionen ließ Honecker anschließend über die Grenze. Das ist die eine, die spektakuläre Dimension eines Problems, das immer größer wird

und immer mehr zu einer Gefahr für die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten.

Seit im vergangenen Jahr der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß den Milliardenkredit an die DDR „eingefädelt" und schließlich Honecker persönlich seine Aufwartung gemacht hatte, war in der Bevölkerung der DDR die Hoffnung aufgekeimt, nun könne es leichter werden, den Segnungen des Sozialismus den Rücken zu kehren.

Bei den Amtsstellen lagen zwar bereits stapelweise Ausreiseanträge. Doch die Antragsteller warteten teilweise bereits Jahre, ohne überhaupt einen Bescheid erhalten zu haben, ohne zu wissen, ob ihr Wunsch denn überhaupt einmal in Erfüllung gehen könne. Nach dem deutsch-deutschen Tauwetter stiegen die Ausreiseanträge erneut zu einer wahren Flut an.

So mußte etwas geschehen, um die Bedrängnisse für das SED-Regime abzubauen. Die notorisch

schlechte Wirtschafts- und Finanzlage läßt es Ost-Berlin nach wie vor angeraten sein, das Verhältnis zu Bonn nicht ohne Not zu verschlechtern. Von daher verbieten sich zunächst einmal Repressalien gegen die eigene Bevölkerung.

Andererseits gibt es auch für das Regime in der DDR Toleranzgrenzen. Honecker ist moderat, was der lawinenartig angestiegene Strom der Ausreisegenehmigungen in die Bundesrepublik deutlich beweist. Aber der DDR-Staatsratsvorsitzende hat Gegner, die diesen Kurs für falsch halten.

Vor allem die für die Staatssicherheit und die Reinheit der Lehre verantwortlichen Herren, Erich Mielke und Hermann Axen, gelten als vehemente Kritiker der Honeckerschen Großzügigkeit. Sie fürchten um die „sozialistische Moral" und drängen den Generalsekretär zu einem harten Kurs. Bisher hat die „Gruppe Honecker" dem widerstehen können, doch das geht nur so lange, wie keine allzu spektakulären Dinge passieren.

Wenn die Ausreiseantrags-Welle sich indessen zu einer Abstimmung mit den Füßen auswächst, die nach innen wie nach außen nicht mehr zu verbergen ist, wäre die Machtfrage gestellt. Dann dürfte auch für Honecker der Punkt erreicht sein, wo die Räson des Regimes allem anderen überzuordnen ist—mit der unvermeidlichen negativen Auswirkung auf die deutsch-deutschen Beziehungen.

Die haben bisher, Bonner Wende hin, NATO-Nachrüstung her,

alle Untiefen erstaunlich gut überwunden. Das liegt sicher einerseits an Honeckers Willen, so viel wie irgend möglich für die DDR zu erreichen, vor allem finanziell. Andererseits macht aber auch Bonn bis jetzt kaum Fehler.

Ohne Rechtspositionen aufzugeben oder in Frage zu stellen, wird im Kanzleramt nüchtern ausgelotet, was machbar ist und was nicht. Daß für menschliche Erleichterungen, oberstes Ziel Bonner Deutschlandpolitik, auch manche Zugeständnisse erforderlich sind, gehört zum Rüstzeug dieser Politik. Pragmatische Betrachtungsweisen - etwa über den Verlauf der innerdeutschen Grenze an der Elbe, der seit Jahrzehnten zwischen Bonn und Ost-Berlin umstritten ist — haben längst Vorrang vor ideologischen Verfestigungen.

Die Wallfahrt bundesdeutscher Politiker zur Leipziger Messe war ebenso ein beredtes Zeichen für Bonner Aufgeschlossenheit gegenüber Ost-Berlin, wie die — nach fast 15 Jahren erbitterter Gegnerschaft — wieder einmal einstimmig beschlossene gemeinsame Erklärung der drei großen Parteien CDU/CSU, SPD und FDP zur Deutschlandpolitik Ausdruck innenpolitischer Entkrampfung war.

Was Bonn anbetrifft, könnte das innerdeutsche Verhältnis blühen und gedeihen. Honecker scheint mitzuspielen. Doch die Unsicherheit im Innern der DDR, nicht zuletzt die immer unkontrollierbarer werdende Friedensbewegung, könnte bald einen Grad erreichen, an dem auch das beste Good-will aus Bonn nichts mehr nützt.

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