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Digital In Arbeit

Deutschland -ein türkisches Sommermärchen

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Deutschland, ah, Deutschland, ich sage Dir, lieber Bruder, ist ein wahres Paradies, wenn es überhaupt eines gibt. Bist Du mal auf einer Autobahn gefahren? Schnurgerade, sauber, wunderschön. Auf der einen Seite haben sechs Autos nebeneinander Platz, so breit ist sie, auf der anderen fahren wieder sechs Autos nebeneinander, so doli ist das. Die Autos sind auf der Autobahn keine Autos mehr, sie sind Flugzeuge, nein nein, Raketen, sie fahren so schnell, nicht mal eine Kugel könnte sie erreichen. Wozu erzähle ich Dir das? Wenn Du noch nicht auf der deutschen Autobahn gefahren bist, kannst Du es Dir nicht vorstellen. Nichts kannst Du kapieren. Und die anderen Straßen? Sie sind so sauber, daß Du Deine eigene Spucke auflecken kannst. Im Sommer glänzen sie wie Metall. Sie sind alle gut beleuchtet. Verlierst Du einen Pfennig auf der Straße, so siehst Du Deinen Pfennig von zehn Meter Entfernung aus. Rechts, links grüne Bäume.

Die Autos, die Autos, ich kann Dir nicht sagen, wieviel Tausende, Abertausende oder Millionen es sind. Grüne, gelbe, rote, blaue, gestreifte Autos, alle Typen, alle Baujahre. Die Deutschen pflegen ihre Autos so sorgsam, als wären es ihre Kinder. Du kannst in Deutschland deinem Kind eine Schelle

Die Kunst der Satire als Teil der Lebenskunst: Der aus einem anatolischen Dorf stammende Autor, der auf der Intensivstation der Ulmer Universitätskliniken als Krankenpfleger arbeitet, begann das Schreiben, um psycfiisch überleben zu können.

geben, es passiert nichts. Aber wenn Du ein Auto irgendwie beschädigst, wird der gute Deutsche gleich böse. Jeder hat ein Auto. Wenn man achtzehn ist, kriegt man sofort eines, wie bei uns jeder einen Esel hat oder haben sollte. Ein Auto zu bekommen, ist so leicht, leichter geht's gar nicht.

In Deutschland gibt es Fabriken, die selbst Fabriken herstellen. Eingezäunte, große, von uniformierten Pförtnern bewachte Fabriken. Um von einem Büro zum anderen zu gelangen, brauchst Du unbedingt ein Auto, sonst bist Du den ganzen Tag unterwegs. Wenn Du mal im Schichtwechsel Deinen Bruder verlierst, kannst Du ihn nicht mehr sehen. So viele arbeiten in den Fabriken. Weißt Du, lieber Bruder, entschuldige, das überschreitet die Grenzen Deiner Vorstellung.

Ich muß Dir auch das noch berichten: Die Deutschen sind anständige, ehrliche Leute. Wenn Du mal Deinen Geldbeutel verlierst, egal wo, ob in der Fabrik, im Klo, auf der Straße, im Geschäft, sogar im Puff, bete zu Gott, daß Dein Geldbeutel von einem Deutschen gefunden wird. Du bekommst ihn sofort wieder bei der Polizei. Wie das geschieht, willst Du wissen, nicht wahr? Ich werde es Dir erklären. Entweder kommt die Polizei mit Deinem Geldbeutel zu Dir, oder sie rufen Dich an, bitten Dich, seien Sie so nett, würden Sie mal bei uns vorbeikommen, Ihr Geldbeutel wurde bei uns abgeliefert, und das belastet uns sehr, holen Sie ihn bitte ab. Du glaubst mir vielleicht nicht, aber das ist Deine Sache. Ich muß Dir sagen, was ich gesehen, gehört und selbst erlebt habe. Jawohl, so höflich bitten die Polizisten Dich. Du willst mich was fragen? Du brauchst es nicht, ich kann es mir schon denken: Was die deutschen Polizisten überhaupt tun? Ehrlich gesagt, ich weiß es selbst nicht recht. Ich vermute aber, daß die nur dazu da sind, den anderen Menschen zu helfen. Sie haben Pistolen, grüne Uniformen, lächelnde Gesichter. Ob sie noch Arbeit haben? Trotzdem gibt es Polizisten.

Die Deutschen sind ehrlich, anständig, immer lächelnd, freundlich, höflich, hilfsbereit. Angenommen, Du hast einen Greis auf der Straße nach irgendeiner Adresse gefragt: Kennt er sich nicht gut aus, so geht er in eine Telefonzelle, es muß irgendwo irgendeine Stelle oder irgendein Amt geben. Da fragt er nach der Adresse nach. Wenn er von Dir erfährt, daß Du Türke bist, o lieber Gott, dann weiß er nicht mehr, was er für Dich alles tun soll. Zum Essen einladen, zum Biertrinken, oder nach Hause mitnehmen, oder, oder … ich kann Dir alles nicht einzeln aufführen. Es gefällt mir nur das nicht an den Deutschen, daß sie nicht eifersüchtig sind. Du weißt ja, was unser Hodscha gesagt hat: Wer Schweinefleisch ißt, ist nicht mehr so eifersüchtig auf sein Weib. Deshalb darfst Du vor den Augen des deutschen Mannes mit seiner Frau tanzen. Tanzen hast Du bestimmt schon im Kino gesehen. Du umarmst die Frau fest, machst allerhand Bewegungen dazu, gleich welche. Du darfst nur nicht stehen bleiben, mußt Dich immer hin und her bewegen. Bei jeder Bewegung machst Du Dich an die Frau noch näher heran und…

Die deutschen Frauen: Goldblonde Haare, die Dir warm machen, schöne explodierende blaue Augen. Sieht sie Dich nur einmal an, so kommt aus Deinem Inneren was Warmes, Berauschendes, Verrücktmachendes. Die, die Frauen, meine ich, die sind so schön, so fein. Mit denen kannst Du nicht schlafen, weil Du das nicht schaffen kannst. Du Idiot, hast Du's noch nicht kapiert, die machen Dich auf der Stelle kaputt. Sie sind wie junge Ponys. Im Sommer sind sie nackt, jawohl nackt. Natürlich kannst Du nicht alles sehen, lieber Gott, woran denkst Du gleich. Man muß nicht alles sehen.

Die deutschen Kinder, die sind süß … wie ihre Mütter. Hast Du mal einen blonden Kopf gesehen, mit blauen Augen, stets ein lachendes Gesicht, ja das sind die deutschen Kinder. Die unseren sehen wie Erwachsene aus, so verbraucht, so traurig. Das habe ich nicht kapiert, warum unsere so sind und die deutschen ganz anders. Die deutschen Kinder sind gehorsam. Hat die Mutter gesagt, setz Dich hin, so setzt sich das Kind sofort hin. Und wartet darauf, daß die Mutter sagt: aufstehen.

Geh mal in ein deutsches Gasthaus: wunderbarer Service, sauberes Essen, billig. Ein Hähnchen, schön gebraten, gibt's für zwei bis drei Mark. Ich gebe Dir einen Rat. Wenn Du ein deutsches Gasthaus betrittst, so mußt Du gleich sagen, daß Du kein Schweinefleisch essen kannst. Sonst bringen sie Dir sofort ein Stück davon. Das ist die andere schlechte Seite der Deutschen, sie essen viel Schweinefleisch. Aber was soll's? Wenn sie sündigen wollen, dann sollen sie es auch.

In deutschen Gasthäusern arbeiten meistens Frauen. Wenn Du mit einer dieser Frauen was anfangen willst, dann, lieber Freund, mußt Du warten, bis die Frau Dienstschluß macht, weil in Deutschland im Dienst nur gearbeitet wird. Diese Frauen werden immer als Fräulein angesprochen. Fräulein ist eine, die nicht verheiratet ist. Das sagen sie so, aber wenn Du mich fragst, ohoho…

Die Bahnhöfe in Deutschland sind eine wahre Attraktivität, nicht wie bei uns. Bei uns wirken sie wie Friedhöfe; mal steigt ein müdes Gesicht ein, mal steigt ein abgeschaffter Körper aus. Die deutschen Bahnhöfe sind lebendige Bahnhöfe, rund um die Uhr; Hunderte, Tausende Züge verkehren, mit fröhlichen, problemlosen Menschen. In den Bahnhöfen findest Du alles, von den Zeitungen bis zur Hure, da wird's Dir nie langweilig. Wir Türken gehen in Deutschland meistens nach der Arbeit zum Bahnhof. Wir treffen uns da, sehen uns alles an, unterhalten uns. Die Zeit geht so schneller vorbei, noch dazu gibt's hier alles umsonst. Wenn man das zum erstenmal sieht, wird einem schwindelig. Du brauchst nicht zu sagen. Du würdest nicht schwindelig. Genauso schwindelig wirst Du, wenn Du mal in Kaufhäuser gehst. Acht, zehn Stockwerke mit elektrischen Treppen. Du mußt Dich draufstellen, aber vorsichtig, sonst brichst Du Dir die Knochen. Du brauchst keine Schritte mehr zu machen. Die Treppe macht sie für Dich.

Voller Waren sind diese Kaufhäuser

— mit allem, was Du brauchen kannst, mit allem, was Du Dir nur denken kannst, einfach mit allem, Möbel, elektrische Geräte, Fotoapparate, Schmuckstücke, Textilien, Obst, Lebensmittel. Die Abteilungen, weißt Du, die Abteilungen sind so schön hergerichtet. Was eine Frau braucht, kann sie in der Frauenabteilung finden. Was ein Mann benötigt, steht in den Männerabteilungen. Kinderabteilungen sind nur für Kinder. In einer Minute kaufen Tausende Menschen gleichzeitig. Weiß Du was? Die Deutschen sind nicht normal. Sie kaufen alles, wie Verrückte. Ob sie alles benützen? Aber kaufen tun sie. Wir Türken warten auf den Tag, an dem alles doppelt billig verkaiift wird. An solchen Tagen kaufen nur wir, weil die Deutschen das ganze Jahr gekauft haben und jetzt nicht mehr kaufen können.

Die deutschen Wälder: Du, die Bäume reichen da bis zu den Sternen. Schöne Straßen ziehen sich durch die Wälder. Die deutschen Frauen sind keine Angsthasen wie unsere. Es passiert nichts in den Wäldern, gewiß, aber trotzdem sind die deutschen Frauen keine Angsthasen. Die deutschen Wälder sind immer grün — sommers wie winters, im Frühling und im Herbst —, als wären sie grün angestrichen. In den Wäldern leben Hasen, Füchse, Rehe, Hirsche ganz frei. Niemand tut den Tieren was. Sie laufen in den Wäldern, die Menschen laufen in den Wäldern.

In Ulm gibt es eine Kirche, die ist zehnmal so groß wie unsere Moschee. Und paß mal gut auf jetzt, die Kirchen haben auch Minarette. Du staunst? Macht nichts. Ich habe auch gestaunt, als ich es erstmals gesehen habe. Ja, die Kirchen haben auch Minarette. Ich habe freilich noch keinen Muezzin gesehen, ich weiß noch nicht, wie sie das machen.

Ich muß Dir auch noch was über das deutsche Fernsehen erzählen. Sie fangen schon mittags um zwölf an, und es dauert bis 24 Uhr, manchmal bis zwei Uhr. Mindestens sechs verschiedene Fernsehprogramme gibt es, alle in Farbe, in prächtiger Farbe. Musik, Cowboyfilme, Kriminalfilme, Liebesfilme. Ich habe bei einem deutschen Kollegen, der mich schätzt, den ich mag

— übrigens hat er eine wunderschöne Frau, sie wollte mit mir was, aber die ist schließlich die Frau von einem Freund, Du weißt ja, so was steht nicht in

unserem Buch — einen Liebesfilm angeschaut. Das war wahnsinnig. Der Film hat mich verrückt gemacht, so viele nackte Szenen gab es da. Die Busen der Frauen, die… der Frauen, und der… der Männer waren alle zu sehen. Ich habe mich so geschämt. Stell Dir mal vor. Du siehst das alles vor einer Frau, ich bin rot geworden. Der Frau meines Freundes hat es nicht so viel ausgemacht, glaube ich. Sie hat es mit uns angesehen. In Deutschland ist so was normal.

Niemand macht Dir Vorschriften. Jeder lebt für sich. Die Omas und Opas werden von den Kindern in Häuser gesteckt, die Altersheime heißen, damit sie die Kinder nicht stören. Das ist natürlich nicht gut, aber die sind auch nur Menschen, die Deutschen, sie haben auch ihre Lücken.

Geldverdienen ist in Deutschland kinderleicht. Obwohl ich ein bißchen verschwenderisch bin, spare ich so viel, daß ich meine zwei Wohnungen in Samsun kaufen kann. Du arbeitest wenig, aber verdienst viel. Für jeden gibt es Arbeit. Gleichgültig, ob Du blind oder taub bist. Du kriegst Arbeit. Ich kenne jemanden, der im Rollstuhl sitzt, jedoch arbeitet.

Bist Du in Deutschland fleißig, dann ist alles in Ordnung. Die Meister, die Chefs und die Kapos sind so freundlich, so hilfsbereit. Ich habe einen Meister, Herr Schmidt heißt er, der ist ein wunderbarer Mensch. Wenn ein Ungläubiger in den Himmel kommen könnte, wäre er es bestimmt. Er trinkt zwar ein bißchen viel Bier, ich habe ihn aber noch nicht betrunken gesehen. Er hat ein rotes Gesicht, dick ist er auch. Arbeiten tut er wie verrückt, wenn es darauf ankommt. Der mag mich gern. Er macht mit mir Spaß, ich lache mit ihm. Er sagt zu mir immer: „Du Kümmeltürke".

Ich mag ihn wie meinen eigenen Bruder Ismail. Ich hatte mal weniger Geld bekommen als sonst. Als er das erfahren hat, ist er gleich ins Lohnbüro gegangen, hat mit den Leuten drin geschimpft, geschwätzt, hat gewartet, bis alles in Ordnung war. So rührend hat er sich um mich gekümmert. Wenn ich zum Urlaub hierher komme, wünscht er, daß ich ihm Teppiche, goldene Ringe oder Lederwaren mitbringe. Er bezahlt schon, aber ich will das nicht. Nein, nein, der ist ein hervorragender Mensch. Wenn jeder Türke in Deutschland einen Meister hätte wie ich, wollte keiner in die Türkei zurück.

Nach Problemen in Deutschland fragst Du? Es gibt keine Probleme, sie haben alle gelöst. Probleme mit Politikern haben sie auch nicht. Die deutschen Politiker sehen nicht wie Politiker aus. Sie sind ganz normale Deutsche. Ich habe mal im Fernsehen gesehen, wie sie sich zusammensetzen, Politiker aus allen Parteien, sie sprechen ganz leise, verabschieden sich freundlich voneinander.

Ich sage Dir: Wenn Du später mal sagen willst, Mensch, ich habe in dieser Welt gern gelebt, habe sie gern erlebt, ich habe mein Leben genossen, jetzt kann ich meine Augen schließen, dann, lieber Freund, jawohl, dann mußt Du in Deutschland gewesen sein.

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