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Deutschland ist heidnischer geworden

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Die Debatte um die gesetzliche Regelung der Abtreibung in Deutschland ließ deutliche Differenzen zwischen Bischöfen und christlichen Politikern erkennen.

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Die Debatte um die gesetzliche Regelung der Abtreibung in Deutschland ließ deutliche Differenzen zwischen Bischöfen und christlichen Politikern erkennen.

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Viele deutsche Katholiken sind der Überzeugung, daß das gesellschaftliche Klima für sie in den nächsten Jahren eisiger werden wird. Vieles spricht dafür, daß die Einheit Deutschlands die Christen in diesem Land unter einen erhöhten Legitimationsdruck gesetzt hat, und daß der seit Jahren schleichende Prozeß der Ent-christlichung einen so nicht befürchteten Schub bekommen hat. Seit dem 25. Juni sind vor allem katholische Christen regelrecht besorgt um die Kultur in Deutschland. Die große Mehrheit, mit der das deutsche Parlament nach einer löstündigen Debatte die Einführung der Fristenregelung beschloß und damit die unterschiedliche Abtreibungsgesetzgebung in Ost-(Fristenregelung) und Westdeutschland (Indikationsmodell) beendete, hat zu heftigem Protest katholischer Christen geführt. Ein Protest, der ebenso vorauszusehen war wie das Ergebnis im Deutschen Bundestag. Immerhin entspricht das parlamentarische Votum dem Denken in der deutschen Bevölkerung.

Schon seit langem spitzte sich das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und politischen Parteien in Deutschland zu. An keiner anderen Frage waren die Zerwürfnisse so deutlich ablesbar wie in der Abtreibungsdebatte, die der Einigungsvertrag dem deutschen Volk beschert hatte. Den Architekten der Einheit war es nämlich nicht gelungen, in dieser grundsätzlichen Thematik eine gesamtdeutsche Regelung zu schaffen. Sie hatten an dieser Stelle kapituliert und statt dessen zweierlei Recht bestehen lassen - mit der Maßgabe an den Bundestag, innerhalb von zwei Jahren eine gesamtdeutsche Gesetzgebung zu finden. Seither erlebte die deutsche Öffentlichkeit eine Diskussion, in der schließlich nur noch die katholische Kirche mit klaren Positionen für das Lebensrecht ungeborener Kinder übrigblieb. Und sie erlebte in den vergangenen Wochen, wie das Verhältnis zwischen der Kirche und den regierenden Christdemokraten beinahe täglich gespannter wurde.

Zu den Hauptfiguren dieses Schlagabtausches wurden der Kölner Kardinal Joachim Meisner und die katholische Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, die einst über die Schiene der Kirche den Weg in die Politik fand und nun mit ihrem betonten Eintreten für eine Fristenregelung ins Kreuzfeuer eben dieser Kirche geriet. Die Politikerin ihrerseits machte sich zur Wortführerin einer Wachsenden Gruppe von Christdemokraten, die dafür plädierten, die letzte Entscheidung bei einer Abtreibung allein und ohne Strafandrohung der Frau zu überlassen.

Eine Interview-Äußerung des Kölner Kardinals machte das Zerwürfnis zwischen Union und katholischer Kirche erst so richtig deutlich. Der Erzbischof empfahl im Zusammenhang mit der Neuregelung des Abtreibungsparagraphen der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands, das „C" aus dem Parteinamen zu streichen. Damit hatte, wie sich zeigen sollte, Meisner einen höchst empfindlichen Punkt bei der CDU getroffen.

Ein Briefwechsel zwischen dem Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Rüttgers, und dem Kölner Kardinal macht dies besonders sichtbar und verdient Aufmerksamkeit, weil sich darin zugleich der Stellenwert der Kirche in der deutschen Gesellschaft spiegelt. Rüttgers, zugleich Vorsitzender des Familienbundes Deutscher Katholiken im Erzbistum Köln - worauf der Kardinal in seinem Antwortschreiben gleich zu Beginn hinweist -, nahm seine Fraktionskollegen gegen die von denen als überzogen empfundene Kardinal-Forderung zur Streichung des „C" in Schutz. Es zeige sich, daß „auch auf dem Fundament gleicher Grundüberzeugungen unterschiedliche Auffassungen über die konkrete Ausgestaltung der gemeinsamen Zielsetzung möglich sind, ohne sich gegenseitig mangelnde Überzeugungstreue vorzuwerfen. „Außerdem", so der CDU-Politiker, „wird hier deutlich, daß der Verlust an Wertekonsens in der Gesellschaft vor allem eine Anfrage an die Kirchen ist." Die CDU sei keine Kirchenpartei, so wenig wie das Evangelium ein politisches Programm sein könne. Der Brief an Meisner endet mit dem Hinweis: „Mir scheint, daß die gebotene gegenseitige Zurückhaltung überschritten ist, wenn der Christlich-Demokratischen Union die Berechtigung ihres Parteinamens abgestritten wird, sobald bestimmte politische Forderungen der Kirche nicht erfüllt werden."

Um Leben und Tod

Die Antwort aus dem Kölner Kardinalshaus folgte prompt. Meisner gibt zu bedenken, daß es sich bei der Abtreibung nicht um eine „politische Forderung" der Kirche handelt: „Wenn ich mich als Bischof zu Wort melde, weil es um Leben und Tod von Menschen geht, wenn es (...) um das Lebensrecht der Noch-nicht-Gebore-nen geht, erwarte ich nachdrücklich von einer Partei, die sich des anspruchsvollen „C" (=Christlich) bedient, daß sie sich ohne Wenn und Aber dieses elementaren Menschenrechts annimmt."

Tatsächlich hat die CDU, oder besser: haben führende Vertreter der CDU immer mehr Schwierigkeiten, das „C" in ihrem Parteinamen zu bestimmen oder es zu profilieren. Solche Probleme sagen aber nicht nur etwas über den Zustand einer Partei aus, die nach dem Abstimmungsergebnis in der Abtreibungsfrage auf dem Weg ist, in eine grundsätzliche Definitionsdebatte zu geraten. Das uneinheitliche Bild, das Christdemokraten inzwischen in so fundamentalen Fragen bieten, entspricht einer Entwicklung innerhalb der Kirche selber. Auch dort ist längst nicht mehr überall jene Überzeugung anzutreffen, die die deutschen Bischöfe zum Lebensschutz noch einheitlich haben. Und das parlamentarische Ja zur Fristenregelung ist vor allem auch das erste tragische Ergebnis einer seit Jahren schleichenden Entchristlichung der deutschen Gesellschaft.

So ist an der CDU auch'ein wenig der Zustand der katholischen Kirche ablesbar, auch wenn sich dieser noch geschlossener zeigt als etwa in den evangelischen Kirchen Deutschlands, wo beispielsweise die neue Abtreibungsgesetzgebung mit ganz unterschiedlichen Reaktionen begleitet wurde. Noch ist in der katholischen Kirche nicht vorstellbar, daß ein führender Bischof sagt, was der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland äußerte. Dieser forderte Respekt vor der Entscheidung und meinte, die Abgeordneten hätten diese „nicht nur aus der Verantwortung ihres Gewissens, sondern aus christlicher Verantwortung" getroffen.

Ganz anders die offiziellen katholischen Stellungnahmen. Karl Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, zeigte sich „tief betroffen und traurig" und erklärte: „Auf der Strecke blieb das Lebensrecht des ungeborenen Kindes. Dies stellt einen tiefen Bruch mit der bisherigen Werte- und Rechtsordnung dar." Ein Staat, der sich nicht mehr eindeutig schützend vor allem vor das Lebensrecht der Schwachen stelle, „handelt inhuman". Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken nannte die neue Regelung „ethisch unverantwortlich und verfassungswidrig".

Lehmann machte Mut

Daß den deutschen Katholiken ein scharfer Wind ins Gesicht bläst, machte auch der 91. Deutsche Katholikentag im Juni in Karlsruhe deutlich. „Eine Neue Stadt ersteht - Europa bauen in der Einen Welt" lautete das Motto, das Lehmann in seiner Predigt vor rund 60.000 Gottesdienstbesuchern der Abschlußmesse (die im Deutschen Fernsehen live übertragen wurde) nützte, um den attackierten Katholiken Mut zu machen:

„Wir unterscheiden uns als Christen oft leider nicht von den übrigen gesellschaftlichen Trends. Wir können aber nicht überleben, wenn wir nur stromlinienförmig mitschwimmen und der Unterscheidung der Geister ausweichen. Auf die Zahl allein kommt es nicht an, auch wenn wir keinen Menschen preisgeben wollen. Wir wollen keine Sekte und kein Getto werden. Aber eine mutige Minderheit ist auch in den Augen des Evangeliums besser für die Gesellschaft als eine lauwarme Mehrheit. Ich halte nichts vom Gesundschrumpfen, aber alles von einem mutigeren Glaubensund Lebenszeugnis, das uns neuen Respekt verschafft".

Zur Zeit müßten die Christen und besonders die Katholiken in Deutschland „viele Unfreundlichkeiten" einstecken. Unter Beifall rief Lehmann den Menschen zu: „Es ist rauher geworden. Man möchte uns auf manchmal fragwürdigen Wegen vorrechnen, wie schwach wir geworden sind. Man rechnet aber noch mit uns, sonst würden wir nicht so heftig angegriffen".

Ein CDU-Politiker, so erinnern sich manche noch, sagte zur Wendezeit 1989: Deutschland werde jetzt östlicher und protestantischer. Man muß diese Erkenntnis heute korrigieren: Es zeigt sich, daß Deutschland mit der Einheit vor allem heidnischer geworden ist - und kälter. Das ist eine bedrückende Herausforderung für Christen, aber auch eine Chance für die katholische Kirche in Deutschland, sich aus ihrer jahrzehntelang kultivierten Nabelschau und dem Kreisen um weniger wichtige Randfragen zu befreien und der säkularen Welt zu zeigen, was Christen unterscheidet.

Martin Lohmann ist Ressortleiter „Christ und Welt/Katholische Kirche" beim „Rheinischen Merkur" in Bonn.

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