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Deutschland — was ist das?

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Deutsche Geschichte — was ist das? Wohl jede Generation, die in den vergangenen hundert und mehr Jahren dieses Thema in der Schule vorgesetzt bekam, erhielt auch ihre eigene Definition dafür. Das kennzeichnet bereits die erste Problemstellung des geplanten „Deutschen historischen Museums“, das in den kommenden Jahren in Berlin errichtet werden soll.

Für 1987, wenn die geteilte ehemalige Reichshauptstadt — in beiden Teilen getrennt — den 750. Jahrestag ihrer ersten Erwähnung feiern soll, ist die Grundsteinlegung vorgesehen (siehe auch FURCHE 11/1986). Kürzlich legte die Sachverständigenkommission ihr Konzept vor, das nun von den Fachleuten im In- und Ausland begutachtet und diskutiert werden soll.

Deutsche Geschichte — was ist das? Sicher nicht nur die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die sich nun aufgerufen sieht, „deutsche Geschichte“ zu dokumentieren. (Für die spezielle Geschichte der Bundesrepublik seit 1945, genauer seit 1949, entsteht in Bonn ein eigenes Haus.)

Deutsche Geschichte kann weder allein die Geschichte des alten noch des neuen (Deutschen) Reichs sein, nicht nur die des Kaiserreichs der Sachsen-, Salier-, Staufer- und Habsburgerherrscher (einschließlich der einzelnen Luxemburger und Wittelsbacher auf diesem Thron), noch jene der Hohenzollern nach 1871, fortgesetzt über Weimarer Republik und NS-Staat bis zur Gegenwart.

„Charakteristisch für die deutsche Vergangenheit sind die sich ändernden Grenzen des von Deutschen besiedelten Raumes in der Mitte Europas“, heißt es im Konzept. Diesem Raum, der „deutschen Geschichte in sich wandelnden Räumen“, gilt die Zielvorstellung des Vorhabens.

„Es wird daran zu erinnern haben, daß etwa auch die Geschichte Burgunds, der Schweiz, der Niederlande und Österreichs lange Zeit zur Geschichte des Alten Reichs gehörten oder mit der deutschen Geschichte verbunden waren.“

Der Geschichtsunterricht vergangener Zeiten - hat sich da viel geändert? - pflegte rigoros bei den alten Germanen anzufangen, um sich auf Preußen zu verengen und das Bismarcksche Deutschland aus diesem herauswachsen zu lassen.

Das Bewußtsein, konkurrierende Geschichtsbilder berücksichtigen zu müssen, der Verzicht darauf, eine (einheitliche) Botschaft zu vermitteln, zwingen die Planer des Museums, zwar zunächst auch den Beobachtungsraum im geschilderten Maß einzuengen, entsprechend der politisch-historischen Entwicklung, gleichzeitig aber die jeweils aus dem Brennpunkt der Beobachtung herausrutschenden Bereiche des Gesamtraums zum Vergleich weiter-zuverfolgen.

Die Deutschen haben zumeist in einer Vielzahl von Staaten gelebt, das deutsche Siedlungsgebiet war stets von einem Kranz von Rand-und Mischzonen umgeben, wird ausgeführt. Die seit dem Hochmittelalter von Deutschen besiedelten Gebiete zwischen Ostsee und Donau — sprich die heute polnisch gewordenen Gebiete Preußens und Schlesiens, dann Böhmen, die deutschen Siedlungen in Ungarn und Siebenbürgen — können nicht ausgeklammert werden.

„Dies kann nicht im Sinn eines Anspruchs auf wiederzubelebende Zugehörigkeiten oder Abhängigkeiten geschehen, sondern im Bewußtsein der wechselseitigen Prägungen und Einflüsse.“

Apropos Prägungen: Wo verlaufen die Wurzeln der heutigen Deutschen? Sicher führen sie nicht nur zu den Germanen, die einst als beliebte Ahnen gehandelt wurden, gerade daß man noch die Römer am Limes mit gelten lassen wollte. Den Kelten, die um Christi Geburt das bedeutendste Volk Mitteleuropas darstellten, auch ohne eigene Schriftdokumente hinterlassen zu haben, wird im Bereich der „frühen Epochen“ bis 900 nach Christus gebührend Raum eingeräumt. Die Slawen, ein Jahrtausend später nachgerückt, werden beim Stichwort „Ostsiedlung“ um 1000 n. Chr. entsprechend berücksich- _ tigt.

Geschichte kann sich längst nicht mehr auf die Abfolge von Herrschergeschlechtern und Kriegsschauplätzen beschränken. „Man wird die politische Geschichte, die Wirtschafts-, die Kultur- und die Sozialgeschichte ungefähr gleichgewichtig zu berücksichtigen haben, wobei diese Bezeichnungen nur Kürzel für heterogene und vielfach untergliederbare, sich verändernde Sach verhalte darstellen.“

Zeitlich gegliedert in Epochen für die Zeitabschnitte vor 900 (der Abspaltung des Ostfränkischen vom Westfränkischen Reich), von 900 bis 1200 (Höhepunkt der Stau-ferzeit), von 1200 bis 1500 (Beginn der Reformation, Weltmacht Habsburg), von 1500 bis 1800 (Französische Revolution, Napoleon), von 1800 bis 1917/18 (Ende der Monarchien), von 1917 bis 1933 (Beginn der NS-Zeit), von 1933 bis 1945 (Diktatur und Krieg) sowie seit 1945 werden jeweils „Vertiefungsräume“ einzelne Themen zum verbesserten Verständnis hervorheben.

Als durchgehende Fragen sollen die Gemeinsamkeiten in der deutschen Geschichte — aber auch deren partielle Zerstörung -, dann die Bedingungen von Herrschafts- und Staatsbildung, wie die historischen Wurzeln der freiheitlichen und demokratischen Wertentscheidungen der Gegenwart behandelt werden.

Das sich ändernde Verhältnis der Menschen zur Natur wird zur Grundlage der Wirtschaftsgeschichte, der Wandel sozialer Strukturen wirkt sich ebenso in den spätmittelalterlichen Bauernaufständen wie im modernen Sozialstaat aus. Im Kulturbereich soll der prägende Einfluß christlicher Weltdeutungen besonders beachtet werden.

Dieses Mammutprogramm auf 35.000 Quadratmetern Gesamtfläche - davon 16.000 Quadratmetern reiner Stellfläche für die ständigen Ausstellungen — unterzubringen, scheint das erste Problem der Planer zu sein, das zweite dann, vor allem für die frühen Epochen die richtigen Exponate zu finden. (Für ein großzügiges Anschaffungsbudget scheint gesorgt zu sein.)

Die Detailausformung so gelingen zu lassen, daß allen Empfindlichkeiten nationaler oder ideologischer Grundlage entsprochen werden kann, wird sehr viel Feinarbeit, viel Fingerspitzengefühl brauchen. Vom Konzept her sollte es gelingen — von den durchführenden Wissenschaftlern wird der Erfolg abhängen.

Die österreichische Historiographie war im Sachverständigenkomitee durch den Wiener Ordinarius für Neue Geschichte Heinrich Lutz vertreten. Nach seinem plötzlichen Tod im Frühsommer ist die Nachfolge noch offen.

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