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Diagnose: Heißhunger

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Es gibt die klassischen und es gibt neue Süchte. Eine seit ei- nigen Jahrzehnten beobachtete Stö- rung gewinnt bei Tiefenpsycholo- gen, Psychoanalytikern und Psych- iatern an Beachtung: Bulimia ner- vosa, Bulimie, krankhafter Heiß- hunger.

Die klassischen Süchte haben die Grenzen ihrer einstigen Verbrei- tung überschritten und breiten sich weltweit aus. Siedler brachen mit Alkohol die Widerstandsfähigkeit der Indianer, Großbritannien zwang im Opiumkrieg China, das Suchtgift aus Indien ins Land zu lassen. Nun sterben die Urenkel der Siedler und Kolonialherren am „Stoff" der Kolonisierten: Heroin, Kokain.

Andere einst exotische Drogen, an denen man nicht so leicht stirbt, die Cannabis-Produkte Haschisch und Marihuana, sind drauf und dran, die Leistungsfähigkeit der westlichen Industriestaaten zu reduzieren. Was sich in den USA an Arbeitszeit und damit Produktiv- kraft in süßen Rauch auflöst, fällt nach Ansicht vieler US-National- ökonomen, etwa im Konkurrenz- kampf mit Japan, volkswirtschaft- lich ordentlich ins Gewicht. Dazu kommen schwere Verluste durch von „eingerauchten" Arbeitskräf- ten verursachte Unfälle und tech- nische Pannen.

Zu den klassischen Süchten von Alkohol über Morphium bis Spiel- sucht (der Dostojewski und Mozart erlagen, letzterer soll erhebliche Summen verspielt haben) gesellen sich neue. Auch uralte Verhaltens- weisen werden als Sucht-Verhal- ten durchschaut. Beispiel für neue Suchtformen: das „Schnüffeln" vorwiegend bei sozial schwachen Jugendlichen. Lösungsmittel- dämpfe, die Industrieprodukten entströmen, sind leicht zugänglich, praktisch unkontrollierbar, und - eingeatmet - besonders tückisch. Schwere Dauerschäden sind oft die Folge.

Der Manager, der sich für sein Unternehmen zu Tode rackert, hat auf den ersten Blick wenig gemein- sam mit seinem Sohn, der sich „Schnee" für Tausende Dollar in die Nase zieht oder mit dem an einer Lackdose schnüffelnden Arbeitslosen. Er gilt als leuchten- des Vorbild. Doch auch Arbeiten kann zur Sucht werden, exzessives Arbeiten ist oft Sucht. Das einst mit ironischem Unterton behafte- te, aus work (Arbeit) und alcoholic (Säufer) zusammengezogene Kunstwort workoholic wurde im klinischen Sprachgebrauch hei- misch.

Gestörtes Eßverhalten bereichert nun also ebenfalls den Katalog der als Sucht etikettierten Verhaltens- weisen. Es kann in verschiedenen Formen auftreten - vom Nacht-Eß- Syndrom (bei etwa einem Prozent der Bevölkerung, Männern wie Frauen) bis zur krankhaften Ma- gersucht.

Letztere und Bulimie treten fast nur bei Frauen auf. Eine neue Dar- stellung der Bulimie in psychologi- scher und kulturhistorischer Sicht bietet Tilmann Habermas: „Heiß- hunger - Historische Bedingungen der Bulimia nervosa" (S. Fischer Verlag, Reihe „Geist und Psyche", 304 Seiten, Tb., öS 154,44).

Symptom: Heißhungerattacken, denen nachgegeben wird, ohne daß es zu Übergewicht kommt, weil auf oft ungesunde Weise gegengesteu- ert wird: Auslassen von Mahlzei- ten, Diät, exzessive sportliche Be- tätigung (schon bei Kaiserin Elisabeth be- obachtet!), mit Ab- sicht herbeigeführtes Erbrechen und so fort. Bulimie hat eine star- ke Komponente von Selbstaggression. Habermas behandelt das Leiden nicht als medizinisches oder sozialpolitisches, son- dern als sozialpsycho- logisches Phänomen („ethnische Stö- rung"). Das ergibt ei- nen Blickwinkel, aus dem die anfallsweise Freßsucht, vereinfa- chend dargestellt, hi- storisch zunächst als Folge neuer verbind- licher Geschlechtsrol- lenklischees (Zwang zur Schlankheit) und als Ausdruck einer Phänomens Identitätskrise er- (Votava) scheint. Sie wandelt sich zum „kulturell sanktionierten Fehlverhalten", einer Möglichkeit, die Alarmklingel schrillen zu las- sen, Leidensdruck für andere er- kennbar zu machen - auch wenn die Anfälle zunächst als Geheimri- tual absolviert werden.

Es gibt viele Arten, vom Regen in die Traufe, vor Problemen in echte Krankheit zu flüchten. Bulimie ist im Spektrum der Suchtkrankhei- ten eine davon.

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