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Dialogbereit und beliebt — der „King”

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Zum 80. Geburtstag des Erzbischofs von Wien erzählen prominente Autoren sehr persönlich von ihren Begegnungen; der Verfasser des nebenstehenden Beitrags leitet die Abteilung Religion im ORF.

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Zum 80. Geburtstag des Erzbischofs von Wien erzählen prominente Autoren sehr persönlich von ihren Begegnungen; der Verfasser des nebenstehenden Beitrags leitet die Abteilung Religion im ORF.

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Religion habe ich zwei, drei Wochen lang geschwänzt. Warum eigentlich? Vierzig Jahre später ist das schwer nachzuempfinden, geschweige denn zu verstehen. 1938, als der Religionsunterricht abgeschafft worden war, holte ich ihn nachmittags mit einigen anderen freiwillig in der Sakristei nach, bis auch das verboten wurde. Jetzt, 1945, als „Religion” wieder Unterrichtsfach war, drückte ich mich zunächst — oder besser: ich ver-drückte mich mit.dem Gros der Klasse in den Garten der Piaristen zum Fußballspiel. Einige andere gingen in dieser Stunde mit dem einzigen Mädchen der Klasse — und manchmal auch mit der Biologieprofessorin—auf dem Kreuzberg spazieren. In den Religionsunterricht ging nur eine Handvoll, kein halbes Dutzend. Die Rede ist von Krems an der Donau im Oktober 1945. Der Religionsprofessor hieß Dr. Franz König.

Er war ein Prachtkerl. Aber das wußten wir anfangs noch nicht. Die Freiheit war schön, die Mädchen waren schön, Fußballspielen war schön — und „Religion” war kein Pflichtgegenstand. Gegen Ende Oktober setzte sich die Mundpropaganda jener Handvoll Frequentanten der Religionsstunden durch: „Warum geht's denn net? Der is' wirklich klass', werd's sehn!”

„Der” hieß, wie gesagt, Dr. Franz König. Und er war wirklich klass! Und wichtig. Lange vor Weihnachten saß auch der letzte von uns im Religionsunterricht und paßte auf wie ein Haftelmacher. Ob Musterschüler oder Widerspruchsgeist, ob Christ oder Atheist — jeder liebte ihn, „den King”: So hieß er nun, der Doktor König, denn Professoren, die von ihren Schülern insgeheim oder offen geliebt werden, kriegen einen Kosenamen.

„Der King” hat den seinen allerdings aus St. Pölten mitgebracht, wo er bis zum Sommer 1945 Dom-kurat war. Ein 40jähriger Domku-rat ist reif für höhere Aufgaben; das Kriegsende machte es möglich, an solche heranzugehen. Doktor König ging tatsächlich, und zwar zu Fuß, nachdem ihn sein Bischof als Religionsprofessor nach Krems versetzt hatte — mit dem Hintergedanken, er möge sich dort auf die Habilitation vorbereiten. Anfang September machte sich Franz König auf den Weg: per pedes apostolorum, weil zwischen St. Pölten und Krems noch keine Eisenbahn verkehrte. Einen halben Tag hat er für die 27 Kilometer gebraucht, erinnert sich der Kardinal noch heute — „obwohl's sehr heiß war”. Doch nicht der Hitze wegen nahm er die Einladung eines Russen an, mitzufahren, als der Iwan auf einem Leiterwagen mit Pferd vorüberrollte, sondern weil man damals einem Russen besser nichts abgeschlagen hat. Dem nicht als Priester kenntlichen Wanderer wollte Iwan nun zeigen, was er aus einer Pferdestärke herausholen konnte, und flugs lagen beide samt Roß und Wagen im Staub, aus welchem sich der Russe ohne Fahrgast davonmachte. An der Donau angekommen, ging Doktor König arglos auf den von russischen Pionieren errichteten Notsteg zu, denn beide Brücken waren zerstört. Wieder Pech mit den Russen: Des Wortschwalls, den der sprachenkundige Professor durchaus verstand, hätte es nicht bedurft; die Maschinenpistole, die ihm der Posten an die Brust setzte, sagte ihm deutlich genug — wie der Kardinal sich lächelnd erinnert -, „daß es sinnlos war, dafür den Heldentod zu sterben”.

In Krems zog der Religionsprofessor als Hausgeistlicher in das Schülerheim der Kreuzschwestern ein. Zuständig war er — genauer gesagt — für zwei Schülerheime: In dem einen Block wohnten mit Doktor König die Buben, im anderen waren die Mädchen untergebracht. Hof und Garten trennten männliches und weibliches Geschlecht strenger voneinander als es Mauern vermocht hätten - dank des Regiments der Schwester Anna, die sogar in der Erinnerung des Kardinals als „Feldwebel” fortlebt. Nur zweimal täglich wurden die Mädchen — in wohlgeordneten Marschblökken — in den Knabenblock gelotst, wo sie im einzigen Speisesaal der beiden Heime an getrennten Tischen ihr Mittags- und Abendbrot verzehrten.

Zwischendurch freilich, wenn sie Hunger nach geistigen oder leiblichen Genüssen hatten und die Augen der Schwester Anna gerade nicht auf Posten ware^i, durften Buben und Mädchen auch ins Zimmer des Doktor König huschen, das immer offenstand und wo immer Bücher bereitlagen, immer ein Marmeladeglas bereitstand, nicht weit davon Brot oder eine „ganze” Jause.

„Er hat unentwegt Bücher gekauft und verschenkt”, erzählten meine im Schülerheim wohnenden Freunde—und verraten damit eine der Methoden des *Kings”, des Religionsprofessors, der so großen Einfluß auf die Jugend der Kriegs- und Nachkriegszeit ausgeübt hat, ohne je den Erzieher hervorzukehren, ohne die Methode spüren zu lassen. Auch uns, die wir nicht im Internat wohnten, hat er immer wieder zum Lesen angeregt, im Religionsunterricht oder im persönlichen Gespräch, und wenn er über heftige Reaktionen enttäuscht war, so hat er's nicht gezeigt, sondern — „mit dem King kannst net streiten”—geduldig diskutiert, den Konsens gesucht, würde man heute sagen. Sucht er ihn nicht immer noch, wo's möglich ist?

Für eine intellektuelle Jugend mit Nazi- und Kriegserfahrung, die sieben Jahre lang nur vor Parolen stillgestanden oder angebrüllt worden war, war dies eine Offenbarung. Das war das „Geheimnis” des Doktor König: Er zwang den jungen Menschen keine Meinung und schon gar keine Doktrin auf, hatte aber durchaus selbst eine Meinung und stand fest in seinem Glauben; er teilte seine Meinung, seinen Glauben mit; er teilte aus, nahm aber auch entgegen, respektierte andere Meinungen, Glaubenszweifel, selbst den Unglauben, ohne davor zu kapitulieren; er hielt viel, ja alles vom Dialog, bevor dieses Wort in Mode gekommen, abgenützt worden war.

„Kings” Religionsunterricht war völlig unorthodox. Da gab es weder einen „Großen” noch einen „Kleinen” Katechismus, aber durchaus die Bibel; da gab es neben der Theologie mehr Philosophie als im Philosophieunterricht; da gab es das Fach, in dem sich Doktor König bald weltweit als Experte profilieren sollte: vergleichende Religionswissenschaft. Da wurde heiß über die Gottesbeweise diskutiert, die heute nicht mehr „en vogue” sind, die uns damals aber auf- und angeregt haben. Königs Lieblingsthema: den Stellenwert der Religion bei großen Persönlichkeiten untersuchen. Ein kurzes Gebet sprach er vor und nach dem Unterricht in allen möglichen Fremdsprachen, selten auf deutsch.

Die Abendrunden im Schülerheim entsprachen den Religionsstunden. Da hatte Schwester Anna mittags angekündigt: „Heute kommt der Doktor König!” Er kam und hielt Vorträge über Gott und die Welt, über Astronomie und Zarathustra oder auch einen Russischkurs. Zu „fromm” durfte und wollte er junge Menschen nicht ansprechen, die ohne Religion oder sogar antireligiös aufgewachsen waren.

Regelmäßig kam „der Doktor König” jeden Nachmittag, wenn die Schüler in der „strengen Studienzeit” zwischen drei und sechs ihre Hausaufgaben machten. Er stellte sich als Ratgeber in fast allen Fächern zur Verfügung, nur Wünsche hinsichtlich Mathematik gab er an andere weiter...

In meiner Klasse standen viele — waffen-, aber nicht spracherprobt - auf Kriegsfuß mit Latein. Einmal hatten sie Glück: Nicht durch Diebstahl oder ähnliche faule Tricks, sondern durch List und Schläue hatten sie dem Lateinprofessor das Thema der nächsten Schularbeit entlockt. Sie gingen „zum King”, und der erbarmte sich ihrer. Nur die Mahnung gab er der Bande mit: „Schreibt's die Arbeit net gar zu gut, das fällt auf; ein paar Fehler müßt's schon reinmachen!”

Menschen, denen er sich verbunden fühlte, konnte Doktor König absolut nichts abschlagen. Dazu ein harmloses Beispiel — aber oft ging es um wesentlich mehr.

Im Schülerheim fällt mittags die Anregung: „Machen wir eine

Raditour in die Wachau.” Der Herr Professor ist .mit von der Partie. Er denkt an Dürnstein, allenfalls an Spitz. Doch die jungen Asse von der Siebenten wollen weiter. Nach Aggsbach. Es ist schon Nachmittag. Auf zur Ruine Aggstein! Dort oben gesteht „der King” endlich: „Jetzt muß ich aber heim; um sechs muß ich die Maipredigt halten!” Die Fama schweigt darüber, ob er noch zurechtgekommen ist. Ich trau's ihm zu.

Mit allem konnte man „zum King”, zum Priester und Menschen Doktor König kommen; vielleicht auch, weil er von sich aus um ein Maximum an Kontakten bemüht war. Mit allem: mit Glaubensfragen und Glaubenszweifeln, mit Liebeskummer und materiellen Sorgen, mit Wissenslücken und Freizeitplänen. Er hat immer gut zugehört und fast immer mitgemacht; er hat immer geholfen und oft einen guten Rat, zumindest aber Trost gewußt. Freilich: in sich hineinhorchen ließ er nie oder nur ganz, ganz selten. Die wenigen Male, da es mir beschieden war, empfinde ich bis heute als Auszeichnung.

Aus dem Buch „Kardinal König”, das ini Herold-Verlag, Wien, erscheint.

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