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Die 50 Prozent

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Der erste Schlagabtausch des Wahlkampfes ist erfolgt. Er brachte nebst Programmaussagen eine Klarstellung über die Wahlziele — wenngleich keine Meinungen über die Form möglicher Regierungen nach dem 10. Oktober (siehe auch Seite 2, „Wahlen — wozu?“). Die Wahlziele: sie signalisieren die

Spannweite der Taktik und auch die Manövrierfähigkeit nach dem Tag der Wahl — wenngleich es vor den Fernsehkameras am Abend des 10. Oktober kaum selbsterklärte Verlierer geben wird.

Dies vor allem auch deshalb, weil jede Partei auf Grund des neuen Wahlrechtes realistischerweise Mandate gewinnen wird.

Das neue Wahlrecht: es vernebelt die tatsächlichen Möglichkeiten ernsthafterer Spekulation. Und es läßt nur bedingte Prognosen zu.

Geht die Nationalratswahl so aus wie am 1. März 1970 (wobei wir die Nachwahlen des 4. Oktober 1970 außer acht lassen wollen), dann lautet die Sitzverteilung 89 (SPÖ), 83 (ÖVP), 11 (FPÖ).

Mehrere Unsicherheitsfaktoren verwirren die Theorie: Zum ersten liegen uns keine relevanten Wahlergebnisse von Landtags- oder Lokalwahlen vor; zum anderen ist unklar, wie hoch die Wahlbeteiligung sein wird.

Die KPÖ hätte Chancen auf ein

Grundmandat und wahrscheinlich ein zusätzliches Mandat, wenn sie in ganz Wien etwa 25.000 Stimmen zusammenkratzt. 1970 hat sie nur 18.000 Stimmen erhalten. Wer daher angesichts des Spaltpilzes in der KPÖ und angesichts der Überalterung ihrer Kader glaubt, daß sie den Sprung in den Nationalrat schafft, ist tatsächlich ein unverbesserlicher Märchenerzähler.

Ihr Wahlziel wird am sichersten diesmal die FPÖ erreichen. Ihr Mandatsstand muß sich erheblich vergrößern — selbst dann, wenn sie Verluste erleidet. Ob und wie sie den Sprung ln die Regierung schafft, wird davon freilich nur am Rande tangiert werden.

In der FPÖ sollte man sich allerdings keine Illusionen darüber machen, daß die Politik des letzten Jahres die große Unbekannte ist. Jedenfalls kann heute die Wendung der FPÖ nach links noch am ehesten mit der Situation im Jahre 1963 verglichen werden, als in den Couloirs des Parlaments die kleine Koalition mit der SPÖ im Anschluß an die Habsburg-Krise schon perfekt schien; damals aber hat die FPÖ in Landtagswahlen schwere, ja schwerste Niederlagen einstecken müssen und hat auch 1966 zwei Mandate eingebüßt. Droht ihr nun ein ähnliches Schicksal, nachdem sie am 1. März 1970 ein „Durchhaus“ für unzufriedene ÖVP-Wähler gewesen sein könnte, die nach dem Linksruck wieder zur großen Opposition zurück- flnden?

Das Wahlziel der Volkspartei ist die relative Mehrheit. Wann ist sie erreichbar? Der Anteil von 44,8 Prozent der Stimmen am 1. März 1970 müßte sich auf 47 Prozent erhöhen, will die ÖVP wieder den ersten Part spielen. Dieser Zuwachs müßte aber vor allem aus dem Stimmenreservoir der SPÖ kommen.

Die Erreichung dieser 47 Prozent als „Traummarke“ würde bedeuten, daß die Volkspartei an das Jahr 1966 anschließt. Vorher hat sie jedenfalls (mit Ausnahme von 1945) niemals diesen hohen Stimmenanteil von 47 Prozent erzielt. Nimmt man nämlich die Wahlresultate seit 1949, dann ist die Volkspartei im Durchschnitt unter 45 Prozent der Stimmen geblieben.

Und die SPÖ? Kann die Partei der 17-Monate-Minderheitsregierung das Wahlziel, eine stabile — sprich absolute — Mehrheit erhalten, damit „die Verhältnisse klar sind“?

Zuvorderst muß festgehalten werden, daß die SPÖ desto besser abschneiden wird, je schlechter es den Kleinparteien geht. So gesehen, wäre es eine schon von der Taktik her diffuse Unterstellung, zu glauben, die SPÖ wolle die Kommunisten im Parlament. Wer eine absolute Mehrheit auf Grund des neuen Wahlrechts will, der braucht Mandate von allen Seiten.

48,4 Prozent der Stimmen haben die Sozialisten unter Parteiobmann Kreisky am 1. März 1970 gewonnen. Es genügte nur zum relativen Mandatsvorsprung, der immerhin nur um zwei Mandate unter der absoluten Mehrheit lag.

Heinz Fischer, der Klubsekretär der SPÖ, kommt bei Prognosen in der „Zukunft“ auf die Variante^ derzu- folge bei einem Gleichbleiben der FPÖ und einem Mandatsgewinn der KPÖ die Sozialisten 50 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen zur absoluten Mehrheit brauchen würden: das wären um 1,6 Prozent mehr als am 1. März 1970.

Schließt man aber realistischerweise einen Einzug der Kommunisten ins Parlament aus, braucht die SPÖ zur absoluten Mandatsmehrheit nur 1,2 Prozent — das sind bloß etwa 56.000 Stimmen. Daß das selbst dann nicht irreal ist, wenn Kreisky von den 183 neuen Mandaten infolge Parlamentsvorsitzes und einer sogenannten Tragfähigkeit ein Plus von etwa drei Mandaten zur Regierung benötigt (immerhin hat damit die ÖVP vier Jahre lang regiert), so braucht die SPÖ ein Mehr von etwa 140.000 Stimmen: am 1. März 1970 hat sie gegenüber 1966 307.000 Zusatzstimmen erhalten.

Die Errichtung dieses Wahlzieles würde mehr sein als ein linker Zwischenspurt im demokratischen Wettlauf bergauf und bergab: er wäre der Durchbruch des Sozialismus in Österreich. Daß der Bundeskanzler diesen Erfolg so undramatisch anpeilt, spricht für sein starkes Selbstbewußtsein.

In dieser umständlichen Rochade aber stehen einige Richter eines Höchstgerichtes vor der Entscheidung, die Verfassung zu interpretieren. Sie müssen wissen, daß Bruchteile von Prozenten Mandatsverschiebungen verursachen und Mandatsverschiebungen über Wahlkreise (sprich Bundesländer) hinweg möglicherweise die Entscheidung erst herbeiführen können.

Diese Richter sind Teile einer Gesellschaft. Sie repräsentieren den Rechtsstaat und sie garantieren den Freiheitsraum der Bürger, der Institutionen, der gesellschaftlichen Kräfte. Können diese Richter ihre Entscheidung tatsächlich geheimhalten, sie dem Wähler verschweigen, sie den Parteien vorenthalten? Uberwiegt bei der Abwägung der Nachteile die Aufgabe einer sogenannten Unabhängigkeit, die Verunsicherung der zur demokratischen Übung aufgerufenen Bürger? Wem sollte das klare Richterwort schaden?

Der Bürger hat ein Recht, von den Parteien, die er wählen soll, zu hören, was sie im Parlament für ihn und den Staat tun wollen.

Der Bürger hat aber auch das Recht, von seinen höchsten Richtern gesprochenes Recht verkündet zu hören. Alles andere nämlich heißt, am Selbstverständnis unserer Ordnung rütteln.

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