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Die „Abschreckung“

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Die Dringlichkeit, die ungleichgewichtige österreichische Sozialbilanz finanziell zu konsolidieren, wird heute auch von Vertretern der Regierungspartei kaum mehr bestritten. Es hat in den letzten Jahren einen Schub von Sozialgesetzen gegeben, bei deren Finanzierungspla-nurag man zunächst einfach auf Wachstum gesetzt hat und deren Folgekosten uns erst heute zu dämmern beginnen. Die Verbesserungen am sozialen Netz sind nun zu bezahlen. Nur der einzelne kann sich der Illusion hingeben, Staat oder Gemeinschaft seien in der Lage, Güter und Dienste kostenlos zur Verfügung zu stellen (siehe auch unseren Beitrag über die neue ASVG-Novelle).

Vorschläge zur finanziellen Flurbereinigung der gesetzlichen Krankenversicherung präsentiert nun die „Sozialwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft“, eine unabhängige Einrichtung, die schon vor fünf Jahren mit einer Studienarbeit zu diesem

Thema an die Öffentlichkeit getreten ist. Diese Vorschläge verdienen um so größere Beachtung, als erst jüngst bekannt wurde, daß die österreichischen Krankenversicherungsträger für das laufende Jahr ein Defizit von rund einer Milliarde Schilling erwarten. Diese Kostenentwicklung bedeutet gegenüber dem Vorjahr eine Verdoppelung des Gebarungsabgangs.

Die „Sozialwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft“ warnt vor der Illusion, daß eine Restauration der zeitlichen und sachlichen Universal-kompetenz des Hausarztes vergangener Zeiten noch vorstellbar ist.

Vorgeschlagen wird eine Einteilung der Sozialversicherungsleistungen in Einkommens- und Gesundheitsversicherung. Denn derzeit wird die gesetzliche Krankenversicherung auch noch für Einkommensersatzleistungen bei Arbeitsunfähigkeit in Anspruch genommen. Man gibt sich in dieser Frage optimistisch, weil beispielsweise das Entgeltfortzahlungsgesetz einen Weg in dieser Richtung beschritten hat.

Als zweiter Schritt wird eine Liberalisierung in der Weise vorgeschlagen, daß die Patienten auf dem „Markt der Gesundheitsgüter“ selbst wählen können. „Es ist nicht zu fürchten“, heißt es in dieser Studie, „daß die Ärztehonorare auf längere Sicht mehr steigen werden, als dies bisher der Fall war. Durch Zulassen aller Ärzte zur Deckung der von der gesetzlichen Krankenversicherung finanzierten Nachfrage wird neben die Leistungskonkurrenz auch eine die Kosten stabilisierende Preiskonkurrenz treten“. Diese Behauptung ist nicht frei von Optimismus, aber grundsätzlich überlegenswert.

Zur Honorar-Bemessung sollen weder Pauschalierung noch Zeithonorar, noch Diagnose „und schon gar nicht Einkommen oder Vermögen des Patienten“ herangezogen werden. Vielmehr soll ein allgemeingültiger Normaltarif geschaffen werden, der gegen Kostenbeteiligung des Patienten überschritten werden kann. Den Normaltarif soll der Arzt mit jeder Krankenkasse verrechnen können.

Die Kostenbeteiligung des Patienten soll über die Einführung eines Krankenkassenschecks funktionieren. Solche Krankenkassenschecks, auf denen der Patient den geforderten Betrag einsetzt, sollen vom Arzt an die Krankenkasse weitergeleitet werden, die ihm prompt die ausgewiesene Summe überweist.

Damit die Kostenbeteiligung der Patienten zu ^Abschreckungs-niaßnsahmen“ führt, sollen periodische Gesundenuntersuchungen und alle Aktionen, die möglichst frühem Erkennen von Erkrankungen dienen, von jeglicher Kostenbeteiligung ausgenommen sein. Überdies wäre auch zu überlegen, ob nicht gewisse prophylaktische medizinische Leistungen von jedem Arzt zum Normaltarif zu erbringen wären.

An diesen Reformvorschlägen ist einiges bestechend: Der Patient ist in der Wahl des behandelnden Arztes nicht beschränkt, ein der derzei-

tigen Sachleistung vergleichbares Institut ist vorhanden, und der sozialen Gerechtigkeit wird dadurch entsprochen, daß die individuellen Beiträge, die ja zumutbare Bruchteile des monatlichen Bruttoeinkommens sind, auf die Leistungen der Kasse angerechnet werden. Selbst ein „dynamischer Selbstbehalt“ für die Krankenversicherung wird vorgeschlagen. Dieser Selbstbehalt soll sich nach dem Einkommen des Versicherten richten. Die Frage ist nur, ob ein Großteil der Patienten (vor allem ältere Menschen, die Bezieher niedriger Einkommen, niedrigere soziale Schichten) für ein solches neues System der Krankenversicherung schon reif sind. Einmal wird in dieser Studie das Wort „Abschrek-kungsmaßnahme“ verwendet, und leider scheint es, als würden viele Versicherte in Österreich ein solches System tatsächlich in dieser Richtung mißverstehen.

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