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Die Affäre Dreyfus

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Der Justizfall um den Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus im französischen Generalstab ist längst geklärt. Die vielumstrittene „Dreyfus-Affäre" ist es nicht. Mit Recht schließt ein modernes Großlexikon dieses Stichwort mit der lapidaren Feststellung, daß darüber „bis heute keine einheitliche Interpretation existiert".

Das historische, kulturkritische und rein literarische Schrifttum, in seiner erstaunlichen Breite,

skandalisierte den eigentlich simplen Spionagefall durch leidenschaftliche Übertreibung.

Als das Revisionsverfahren 1899 zu Rennes (fünf Jahre nach der Verurteilung des Offiziers zu lebenslanger Verbannung auf die Teufelsinsel) abermals mit einem Schuldspruch endete (zehn Jahre Festungshaft) und eine Agentur zunächst—fälschlich — einen Freispruch meldete, hatte das sofort jähe Kurssteigerungen auf der Aktienbörse zur Folge. Wieso das alles?

übrigens: Der Angeklagte zog seinen Revisionsantrag zurück, nachdem man ihm die Begnadi-,. gung in Aussicht gestellt hatte, was natürlich während des Verfahrens nicht möglich gewesen wäre. Er verzichtete auf einen — durchaus unsicheren — Freispruch und zog die sofortige Freilassung vor, die ihm zugesichert war und auch erfolgte. Das war begreiflich nach fünfjähriger Qual der Deportation, wurde jedoch von Gegnern und Zweiflern

als indirektes Schuldbekenntnis beargwöhnt.

Erst 1906 wurde Dreyfus vom Kassationsgerichtshof voll rehabilitiert, brachte es im Ersten Weltkrieg bis zum Oberstleutnant und ist 1935 sechsundsiebzigj ährig in Paris gestorben.

Der von der europäischen Publizistik zur Symbolfigur Hochstilisierte war alles, nur kein „Held", eher ein einfacher Mensch aus guter Familie, Opfer eines Justizirrtums, später Märtyrer eines vielschichtigen Kulturkampfes, verteufeltes oder verhimmeltes Streitobjekt wider Willen. Eine der Ursachen: Alfred Dreyfus war Jude.

1894 verlief der Prozeß ziemlich

ruhig; erst zwei Jahre nachher kam der Verdacht auf, daß die belastenden Schriftstücke, die angeblich aus der deutschen Botschaft stammten, auf M. Ch. F. W. Esterhäzy, einen anderen Generalstabsoffizier, hinwiesen.

Damit setzte die eigentliche Affäre ein, der Skandal begann: Generalstab und Kriegsministerium meinten, die „Staatsräson" verteidigen zu müssen und hielten starr an der Schuld des degradierten Offiziers fest. Es ging nicht mehr um Rechtsfindung, es ging um eine Machtfrage, denn zwei in sich äußerst ungleiche Koalitionen standen einander in wütendem Fanatismus gegenüber.

Die Armee kämpfte um das Ansehen ihrer Unfehlbarkeit, unterstützt von Adel, Großbürgertum und klerikalen Rechtskreisen, vehement angefeindet von Linkskatholiken, Radikalrepublikanern, Sozialisten und der großkapitalistisch-liberalen Presse, auch jen-

seits der Grenzen. Das artete zumal auf deutschem Sprachgebiet zu nationalen Ressentiments aus, so daß den „verkommenen Franzosen" eine Haltung angekreidet wurde, die diesseits des Rheins weit ärger war.

Der berühmte Zeitungsartikel „J'accuse!" von Emile Zola beispielsweise hatte zwar einen Strafprozeß gegen den Verfasser zur Folge, aber in Deutschland wäre er noch vor dem Erscheinen konfisziert worden.

Die furchtbare Lehre: Ein armer Teufel mußte leiden, weil Machtgruppen ihn zum Vorwand ihres Machtkampfes mißbrauchten. Wilhelm Liebknecht, der greise Führer der deutschen Sozialdemokraten, bestimmt kein Antisemit, schrieb nach dem Urteil vier Artikel gegen die „Drey-fusards" für „Die Fackel", da „die Franzosenfresserei" dem Angeklagten doch schaden müsse; freilich glaubte auch der gewiegte Politiker nicht an die Unschuld des Hauptmannes. Soziale Aggressionen geraten eben leicht außer Kontrolle, jetzt wie einst. Verhaßte Juden, italienische Katzeimacher, amoralische

Franzosen usw. sind gefährliche Ausreden für vorhandene Wutbereitschaft: das gibt uns die Gruppenpsychologie zu bedenken.

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