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Die Alpen - von der Idylle zum Alptraum

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„Das schönste auf der Welt, / ist mein Tiroler Land, / mit seinen Bergeshöhn und seiner Felsenwand", klingt das Volkslied aus dem Radio, während der geräderte Automobilist nach bleischwerer Luft schnappt, schwitzend Adrenalin ausstößt und es gar nicht erwarten kann, endlich nach Hintertux oder zum Stubai-gletscher zu gelangen. Doch vor des „Paradieses Schwelle" (J. N. Vogl, „Tirol") haben die Freizeitgötter heute den Stau gesetzt. Und Uber allen Gipfeln ist längst nicht mehr Ruh', wie weiland bei Goethe.

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„Das schönste auf der Welt, / ist mein Tiroler Land, / mit seinen Bergeshöhn und seiner Felsenwand", klingt das Volkslied aus dem Radio, während der geräderte Automobilist nach bleischwerer Luft schnappt, schwitzend Adrenalin ausstößt und es gar nicht erwarten kann, endlich nach Hintertux oder zum Stubai-gletscher zu gelangen. Doch vor des „Paradieses Schwelle" (J. N. Vogl, „Tirol") haben die Freizeitgötter heute den Stau gesetzt. Und Uber allen Gipfeln ist längst nicht mehr Ruh', wie weiland bei Goethe.

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Gegen das Erholungsbedürfnis des Menschen und seinen Wunsch nach Naturgenuß ist nichts zu sagen. Freilich sind die Fußgänger die im Vergleich zu den Pistenwedlern harmloseren Zeitgenossen, weil sie sich natürlich-langsam, Schritt für Schritt gehend und damit potentiell umweltfreundlich fortbewegen. Der Zweibeiner Mensch ist als Fußgänger konzipiert, doch hat er inzwischen den aufrechten Gang beinahe wieder verlernt. So rasen wir mit blankpolierten, hochfrisierten Turbokisten in den Tunnel hinein, über dem einst die Alpen zusammenbrechen werden.

Wir können das Rad nicht einfach zurückdrehen und den gesamten Alpenraum zur Fußgängerzone erklären, aber die Symptome, die das kranke Gebirge erkennen läßt, sind nicht mehr zu übersehen. Denn die Alpen beginnen sich gegen die vom Menschen verursachte Krankheit zu wehren: Bergstürze, Muren, Lawinen, Hochwasser - die Katastrophen häufen sich seit einigen Jahren. Die Alpen halten dem Druck nicht mehr stand. Da kommt eben einfach der Berg herunter, vorzugsweise bei Nacht als Alp-Druck in Gestalt von Geröll - wie im Stubai -, Ötz- und Martelltal oder im Puschlav - und walzt ganze Dörfer und Täler nieder.

Im Sommer 1987hatderBerg Wolfgang Hildesheimers Wohnort in Graubünden niedergewalzt. Wenige Tage vor der Katastrophe hatte Hildesheimer eine Tuschzeichnung unter dem Titel „Geröll" angefertigt, zu der er später schrieb: „Während ich zeich-

nete, begann es zu regnen. Als ich zwei Tage später die Zeichnung beendete, regnete es immer noch, und zwar so, wie es hier noch niemals geregnet hatte, in langen Schnüren, beinah in Wasserfetzen. Und nach weiteren zwei Tagen (...) kam, wie auf diesem Bild, das Geröll. Ein gigantischer Bergsturz, Steine, Felsbrocken, Schlamm und Wasser. Das Dorf wurde überschwemmt, zum Teil zerstört. Es wird niemals wieder so werden, wie es war, und in zwanzig Jahren wird das gesamte Tal unbewohnbar sein, denn im Val Varuna wartet weiteres Geröll auf Wasserstürze, die es zu Tale tragen. Also: keine Zeichnung mehr, die zu Prophetie Anlaß geben könnte" (nachzulesen in: W. Hildesheimer. Hg. v. V. Jehle. Suhrkamp Tb Materialien 2103).

So wird die Wildnis der Alpen wieder zu dem Feind des Menschen, als der sie Jahrhundertelang betrachtet worden ist. Erst in der Aufklärung, die sich als Wissenschaft vom Glück verstand, wurde die Natur zum Objekt, daß von Menschenhand zu bändigen und in eine (vermeintlich) kontrollierbare Ordnung zu bringen war. Als A. v. Haller 1729 in seinem berühmten Gedicht die Alpen feierte, geschah dies auch im Sinne der Lobpreisung des menschlichen Ordnungsvermögens. Heute liest sich seine Beschreibung fast als Wunschphantasie unseres Bewußtseins für die ökologischen Probleme der „Umwelt". In Schillers Elegie „Der Spaziergang" ist die Überwindung der Kluft zwischen Berg und . Tal, zwischen Gipfel und Mensch, als Utopie angelegt. Dem Gefängnis unten zu entrinnen, ist das Motiv des Bergsteigers, der in die Freiheit zu gehen hofft. Da sind Wälder und Wiesen noch grenzenlos grün, balsamisch säuselt die Luft in der ambrosischen Nacht. Symptomatisch jedoch: Der Wanderer auf dem Saumpfad zur Gipfelfreiheit muß die Berge grüßen, schon dies markiert Distanz. Außerdem besteht kein Zweifel, daß der Wanderer wieder in sein Zimmergefängnis zurückkehren wird. In empfindsam verwässerter Dichtung über-

spielen bereits Schillers Zeitgenossen diese Kluft, etwa F. v. Matthis-son, wenn er meint, selbst Hallers Muse müsse es die Sprache verschlagen beim Anblick von „Elysium". Schillers Grußformel ist später zur stereotypen, heimattümelnden Anredeform trivialisiert worden.

Der Unruhestifter Mensch

Freilich, der Bezug von Mensch und Berg, auch die sprichwörtlichen Verhältnisse, haben sich umgedreht: Nicht mehr der Prophet geht zum B erg, jetzt kommt der Berg tatsächlich zum Propheten. Die „Täler voller Duft, Freiheit und Bergesluft" (A. Grün, „Die Martinswand") sind dem Unruhestifter Mensch zum Opfer gefallen. Im Paradies findet die Apokalypse statt, und es bleiben nur die Namen der Toten. So einfach ist das, wie in dem Gedicht von Hans Haid, in dem der herunterkommende Berg jede Utopie überrollt. Das ist der Preis der Profitmaximierung einer Alpinindu-

strie, die auf den Prospekten unverdrossen schamlos mit romantischen Wundern wirbt. Doch Verklärung und volkstümelnde Heimatbeflissenheit können wir uns nicht mehr leisten. Die „Bärenmarkenidylle" mit Molkerei, Stadl- und Jodelalm ist nichts als ein Werbetrick. Für Gerhard Köpf, den unbestechlichen Chronisten dieses vergangenen Idylls, ist Trauer an die Stelle jener Euphorie getreten. Als trügerisch erweist sich auch die Ideologie vom einfachen Leben; sie ist „die Kinderstube betulicher Folter". Was bleibt aber dann?

Aufzubewahren, was sonst dem Vergessen anheimfiele. Erinnern statt erobern, dies könnte der mögliche Ausweg aus einem globalen Desaster sein. Das viel beschworene Heimweh erhielte so seine verlorene Würde zurück, als Möglichkeit einer Einheit von Sehnsucht und Utopie, auszuleben in der Phantasie, zu benennen allein in der Sprache. Der Modus dieses Heimwehs wäre der Konjunktiv, den

der Alpenbewohner noch beherrscht. Der Konjunktiv als „linguistisches Mißtrauensvotum gegen Gott" (Arno Schmidt), der Konjunktiv aber auch als Protest des langsamen Träumers gegen den zerstörerischen Allmachtswahn, des rasenden Realisten. Der Konjunktiv als spielerische Erinnerung an eine verspielte Zukunft. Schon wären einst die Alpinisten Wanderer gewesen ohne Brettln vor dem Kopf, schon wäre es nach den Fußgängern gegangen, mit langem Atem Schritt für Schritt und mit Geduld im Schuh, schon hätte sich jeder Stau aufgelöst.

DIE ALPEN. Entstehung und Gefährdung einer europäischen Kulturlandschaft. Von Werner Bätzing. C. H. Beck Verlag, München 1991. 288 Seiten, öS 374,40.

MYTHOS UND KULT IN DEN ALPEN. Von Hans Haid. Rosenheimer Verlagshaus, 1990. 248 Seiten, öS 764,40.

GEHEN IM GEBIRG. Eine Anthologie. Herausgegeben von Willi Köhler. Fischer Taschenbuch 10155. 266 Seiten, öS 115,40. DIE STRECKE. Von Gerhard Köpf. Luchter-hand Literaturverlag, Frankfurt 1991.576 Seiten, öS 209,-.

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