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Die Alpenbetonierung

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Auf den ersten Blick scheint der österreichische Fremdenverkehr eine heile Welt zu sein. Unsere Berge und Seen, unsere Skipisten und Wälder verkaufen sich gut, österreichische Küche und österreichischer Charme tun das ihre, wohldosierte Kultur für jedes Intelligenzniveau — auf breiter Front zwischen Bregenz und Mörbisch angeboten — lassen viele auf ihre Rechnung kommen, und für Komfort ist gleichfalls gesorgt: 2362 Seilbahnen und Sessellifte sowie 355 geheizte Hallenbäder stehen den p. t. Gästen zur Verfügung.

Die Erfolgszahlen sind dementsprechend imposant. Kommerzialrat Trend war auch im Vorjahr wieder sehr agil, die Übernachtungen stiegen erneut, nämlich um 5 Prozent. Die bösen Inländer nächtigen zwar um 1,8 Prozent weniger, aber die braven Ausländer machten das mehr als wett und verzeichneten um 7,2 Prozent mehr Ubernachtungen. Von den 92,9 Millionen Touristen-nächtigungen im Vorjahr entfielen 72,2 Millionen oder mehr als drei Viertel auf Ausländer.

Im internationalen Vergleich nimmt sich Österreich gleichfalls prächtig aus: Laut OECD-Bericht hatte Österreich bereits 1970 59 Millionen Ausländernächtigungen zu registrieren und wurde in Europa absolut nur von Italien mit 59 Millionen übertroffen. Gemessen an der Bevölkerungszahl, ist Österreich sogar einsame Spitze.

Mit 51 Millionen ausländischer Touristen nahm Spanien den dritten Platz ein, gefolgt von Frankreich mit 33 Millionen, Jugoslawien mit 23 Millionen, der Schweiz mit 21 und der Bundesrepublik mit 16 Millionen. 72 Prozent aller Gäste waren 1970 in Österreich Ausländer (der Anteil ist seither weiter gestiegen) gegenüber nur 64 Prozent in der Schweiz, 63 Prozent in Jugoslawien,

37 Prozent in Italien und 28 Prozent in Frankreich.

Der Fremdenverkehr ist also eine der wichtigsten „Industrien“ Österreichs, nicht nur, was die Einnahmen, sondern auch, was die Arbeitsplätze anbelangt: Um die Jahresmitte 1972 zählte die Branche 83.900 Arbeitnehmer, davon 63.300 weibliche. Dazu kommen noch die gerade in dieser Branche zahlreichen mitarbeitenden Familienmitglieder, so daß ein beträchtlicher Teil der österreichischen Bevölkerung ganz oder teilweise vom Fremdenverkehr lebt.

Aber gerade hier rühren wir an einem wunden Punkt: Arbeitsintensität, noch in den fünfziger Jahren — gar nicht zu reden von der Zwischenkriegszeit — als höchste wirtschaftliche Tugend betrachtet, wurde nun zur Not: der heute grassierende Arbeitskräftemangel wurde zu einem der schwersten Hindernisse für eine quantitative und leider auch für eine qualitative Expansion.

Selbstverständlich unternimmt die Branche alles nur mögliche zur Abhilfe. Sie hat eine der höchsten Quoten an ausländischen Beschäftigten, sie versucht das . lokale Arbeitskräftepotential wenigstens für Teilzeitbeschäftigung zu mobilisieren, und sie bemüht sich um weitere Rationalisierung.

Ein besonderer Engpaß ist die Küche. Die Zukunft wird daher — von Spezialitätenrestaurants abgesehen — vermutlich dem Fertigmenü gehören. Man mag das bedauern, die Entwicklung ist aber wahrscheinlich nicht aufzuhalten. Die Nahrungsmittelindustrie ist allerdings bemüht, nicht nur Qualität, sondern auch Abwechslung zu bieten — und sie wird um so mehr Abwechslung bieten können, je breiter ihr Absatzmarkt ist — um auf diese Weise die Nachteile der Standardisierung zu kompensieren.

Der Vorteil wird nicht nur die Arbeitskräfteersparnis für den Wirt

und eine größere Elastizität seiner „Küche“ im Hinblick insbesondere auf den witterungsabhängigen und daher sehr variablen Ausflugsverkehr sein, sondern auch für den Gast wird sich die Annehmlichkeit einer prompteren Bedienung und einer gleichmäßigen und zuverlässigen Qualität der gebotenen Speisen ergeben.

Aber nicht nur als Arbeitgeber, auch als Devisenbringer ist der Fremdenverkehr wichtig. Ohne den Fremdenverkehr, der alljährlich das Loch, das die .chronisch passive Handelsbilanz in die Zahlungsbilanz reißt, weitgehend stopft, wäre Österreich wahrscheinlich bei den Währungsunruhen der letzten Jahre nicht in der Reihe der Aufwerter, sondern in derjenigen der Abwerter zu finden gewesen. 1972 machte das Außenhandelspassivum 30,8 Milliarden Schilling aus und konnte zu 85 Prozent durch die Deviseneinnahmen des Fremdenverkehrs (26 Milliarden) gedeckt werden. Zum Vergleich: 1950 machte das Handels-bilanzpassivum zwar erst 2,7 Milliarden aus, konnte aber trotzdem nur zu 11 Prozent durch die Touristendevisen (0,3 Milliarden) gedeckt werden.

Freilich wuchs in den Jahren der

Regierung Kreisky das Außenhandelsdefizit so sehr, daß auch ein rasch wachsender Fremdenverkehr nicht mitkommt. 1972 waren dessen Deviseneinnahmen zwar um 18,2 Prozent größer als 1971, das damalige Ausmaß der Deckung des Handelsbilanzdefizits (25,5 Milliarden) mit 86,4 Prozent konnte aber nicht mehr erreicht werden. 1970 hatte die Dek-kung sogar 97,7 Prozent betragen und 1969 war mit einer Überdek-kung in Höhe von 118,5 Prozent ein Rekord erzielt worden. Allerdings hatte damals das Außenhandelspassivum nur 10,7 Milliarden — ein Drittel von 1972 — betragen.

In Zukunft werden wir uns freilich immer weniger auf die Abdek-kung des Außenhandelsdefizits durch die Touristendevisen verlassen können, denn die bisherigen Wachstumsraten werden sich nicht auf die Dauer aufrecht erhalten lassen. Die österreichische Landschaft ist ein Gut, das nicht beliebig vermehrbar ist, dessen Qualität der Quantität seiner Benützung umgekehrt proportional ist. Gewiß gibt es noch Gebiete, die „aufgeschlossen“ werden können, aber ihre Zahl ist nicht so groß, um ohne Einbußen am Erholungswert ein Wachstum wie in den letzten Dekaden zu garantieren.

Schon heute ist das Maximum vielerorts erreicht, das Optimum bereits weit überschritten. Die Einbetonie-rung der österreichischen Alpen macht erschreckende Fortschritte, wozu nicht zuletzt auch die fatalen Apartmentsilos und die Sommerhäuser beigetragen haben. Darüber hinaus drängt die Industrialisierung, von kurzsichtigen Gemeindevätern womöglich noch angelockt, mächtig in die Erholungsgebiete hinein. Eine intensivere und besser koordinierte Raumordnungspolitik sollte da fünf Minuten vor zwölf noch retten, was zu retten ist.

Fehler wurden bereits genug begangen. Die österreichische Fremdenverkehrswirtschaft ist ein viel zu großer Schatz unserer Wirtschaft, als daß wir sie zerstören dürften.

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