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Die Alten werden nicht mehr revoltieren

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Zur Förderung der Jugend wird viel getan in Österreich. Von der Gratisschulbuchaktion über die kostenlose Ausbildung und dem Studium auch ohne Matura bis zu dem berühmten 16.000-Schilling-Scheck bei Eheschließung und Hausstandsgründung. Und was tut man für die ältere Generation?

Man spricht viel von „Lebenshilfe“, in die man auch die Probleme der älteren Generation integriert weiß. Um „in“ zu sein, haben sich auch die Massenmedien der älteren Generation angenommen. Da gibt es plötzlich Seniorenseiten, Seniorenclubs, Seniorensendungen, Senioren… Man hat ein Plätzchen für die Alten reserviert, dort dürfen sie sein, wie in einem Reservat. Ob sie das auch freut? Ob sie daraus Nutzen ziehen?

Wie gut geht es dieser Generation der heute Siebzig-, Achtzig- und mehrjährigen eigentlich wirklich? Keine Generation vor ihnen - und es wird wohl nachher keine geben - hat so viel an Umstellungen und Umdenkenmüs- sen erlebt, wie sie. Wie konnten sie das alles in einem Leben bewältigen? Manche von ihnen sind aufgewachsen noch bei Petroleumlicht, sie alle ohne Rundfunk und Fernsehen, ohne Autos und Flugzeuge, ohne Kühlschränke und Elektroherde und Weltraumraketen. Sie haben zwei Weltkriege durchstanden, Zeiten der wirb schaftlichen Depression, der politischen Vergewaltigung, des langsamen Wiederaufbaues einer zerstörten Heimat. Sie haben den Wandel von der Monarchie zur Republik mitvollzogen.

Heute sind sie mit Atomkraft und Terror konfrontiert Sie fühlen sich allein gelassen in einer Welt, die sie nicht mehr verstehen.

Dieses Unverständnis beginnt in der eigenen Familie. Die Kinder sind weggezogen, der Streß, in dem sie alle leben, erlaubt ihnen dann und wann, die

Großmutter mit dem Auto hinaus zu führen. Es sind vor allem die Frauen, die übrigbleiben, ihre Lebenserwartung liegt im allgemeinen höher als die der Männer. Es gibt materielle und immaterielle Not; die Einsamkeit zählt sicher zur letzteren.

Wir haben gute Sozialgesetze - Österreich war immer ein Sozialstaat. - Aber es gibt auch immer Menschen, die durch den Rost fallen. Österreich zählt 240.000 Mindestrentner, eine beachtliche Zahl in Relation zur Gesamtbevölkerung. Was zählen dagegen 2500 ältere Menschen, die im vergangenen Jahr den Süden unserem nebeligen Winter vorgezogen haben? Mindestrentner waren bestimmt keine darunter!

Ein Mindestrentner bekommt S 2860,-, er ist nicht mittellos, er kann nicht verhungern, er kann nicht erfrieren. Aber frieren kann er doch. Nicht umsonst gibt es zu Weihnachten Kohlenaktionen für Minderbemittelte. Aus einem Brief an eine Fürsorgerin: „In einem kalten Zimmer kann ich mit meinem Leiden nicht sein, da würde ich steif werden und so muß man eben das Opfer bringen. Es geht immer an den kleinen Leuten aus. Wenn ich das alles schon im Sommer gewußt hätte, so hätte ich mir das Brennmaterial bereits angeschafft. Ich wollte mir endlich einen neuen Wintermantel kaufen, da ich bis jetzt immer nur alte getragen habe, so aber kann ich es nicht…“

Es gibt Menschen, die haben weniger als die Mindestrente, kleine Gewerbetreibende, Kleinbauern, schuldlos geschiedene Frauen. Auch den Hilflosenzuschuß kann nicht jeder erhalten, der hilflos ist, sondern nur einer, der selbst gearbeitet hat. Für Ehefrauen gilt das nicht…

Es gibt viele verschämte Arme und viele Organisationen, die helfen möchten, und doch wissen die einen nichts von den anderen. Es gibt Sozialgesetze, Einrichtungen wie „Essen auf Rä-

dem“, Heimhilfen, Pensionisten- und Pflegeheime. Das klingt sehr schön in der Theorie. Die Praxis sieht so aus, daß die Pflegeheime (besonders in Wien, das wie jede Großstadt überaltet ist) über zu wenige Pflegeplätze verfügen. Viele alte Menschen können sich zu diesem letzten Schritt auch nicht entschließen, weil sie vor seiner Endgültigkeit zurückschrecken.

Wer jemals in Lainz oder Baumgarten zu Besuch gewesen ist und die Menschen gesehen hat, die dort seit zehn, seit zwanzig oder mehr Jahren im Bett liegen, wird das verstehen. Hier knistern die Aggressionen: die Lebensäußerungen des Bettnachbarn gehen dem anderen auf die Nerven. Man weiß, wann er hustet, wie er schnarcht; man kennt seine Erinnerungen aus dem Leben bis zum Überdruß. Man will ja gar nicht zuhören, man will selber reden, man will, will, wül…

Alle Tätigkeiten sind auf ein Minimum reduziert. Die Relationen verschieben sich. Die primitivsten Lebensäußerungen rücken in den Vordergrund: Essen und Verdauen. Wie beim Säugling. Nur mit dem Unterschied, daß ein Baby herzig ist und Gedanken an die Zukunft erweckt. Darum gibt es auch mehr Säuglingsschwestern als Altenpflegerinnen.

Ohne Konzepte und Reformen wird sich die Lage der alten Menschen kaum ändern. Aber wer jetzt altist und unter Vereinsamung leidet und Hilfe braucht, dem ist mit Konzepten und Reformen nicht gedient

Daher möchte die Aktion „Diene dem Alter“ der Caritas Socialis beides miteinander verbinden: Im Vordergrund steht die direkte und sofortige Hilfe für betagte Menschen durch Kontakt, Beratung, Beistand, Pflege. Seit zehn Jähen arbeiten Schwester Dolores und ihr Team unter der Devise „Nicht allein lassen“. Über 40 Heimhelferinnen, drei Caritasschwestern und fünf diplomierte Fürsorgerinnen und viele freiwillige Helfer betreuen jährlich über 200 betagte Menschen in Wien. Die Hilfe gliedert sich in Haushilfe und Hauspflege, Beratung und stellvertretende Erledigung diverser sozialer Belange (Gesuche schreiben, Wege zu Ämtern abnehmen), in einen Besuchsdienst aus ehrenamtlichen Helferinnen und dem Altenclub. Aktion und Club sind in der Porzellangasse 44 im neunten Wiener Gemeindebezirk untergebracht Der

Club wird überwiegend von Frauen besucht, hier werden Vorträge gehalten, Anregungen zur Interessenbildung gegeben, wird Theater gespielt, gebastelt diskutiert, geturnt und gesungen.

Ein Akzent dieser Clubarbeit wurde auch in der „Jung-Alt-Begegnung“ gesetzt, die sich nicht nur in Diskussionen zwischen den Clubmitgliedern und Mittelschülern erschöpft sondern ihren Niederschlag in gemeinsamen Theateraufführungen im Club und vor den Behinderten im Haus der Barmherzigkeit fand. Man wird nicht nur betreut, man möchte selbst noch etwas geben. Darauf basiert auch der jährliche Weihnachtsbasar, dessen Verkaufserlös die Kasse der Aktion stärkt Das gibt ihnen das Gefühl der Selbstbestätigung: Man ist nicht überflüssig, man kann noch etwas leisten. Leistung wird in unserer Gesellschaft ja groß geschrieben und macht auch vor den Alten nicht halt

Als Geburtstagsgeschenk zum zehnjährigen Bestand der Aktion „Diene dem Alter“, konnte nun eine Werkstube eingerichtet werden. Sie soll Clubmitgliedern und anderen Interessenten die Möglichkeit geben, in Kursen neue Techniken zu lernen, Batiken, Töpfern, Knüpfen, Weben.

Die Aktion „Diene dem Alter“ sucht

Sympathisanten um weiterhin helfen zu können. Anfragen: 1090 Wien, Porzellangasse 44, Tel. 34 03 81.

Das Leben wird immer weniger lebenswert, sagen die Alten. „Ich bin froh, daß ich schon so alt bin…“. Sie resignieren, sind stärker angepaßt als die Nachkommenden und werden nicht revoltieren. Sie haben ein ausgeprägtes Obrigkeitsdenken, das ihnen manche Situation erleichtert. Vor den Wahlen verspricht man ihnen das Blaue vom Himmel, denn jede Stimme zählt. „Ich bin froh, daß ich schon so alt bin…“ Ob das nur eine Redensart oder das Resümee eines langen Lebens ist? Das sollte uns nachdenklich stimmen, denn morgen werden wir alt sein.

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