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Die Anarchie der Güte

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Noch immer stehen wir voll Stau- nen vor den politischen und gesell- schaftlichen Änderungen im Osten. Vor einem Jahr hätte niemand ge- glaubt, daß in so kurzer Zeit und auf diese Weise dieser Prozeß der Befreiung von unmenschlichen, totalitären Systemen vor sich ge- hen könnte. Daß dies so kommen konnte, hat viele Ursachen. Eine Ursache ist zweifellos, daß es in all diesen Staaten durch Jahrzehnte hindurch aus allen Schichten der Bevölkerung Menschen gegeben hat, die sich mit den Zuständen nicht abgefunden haben, ja die bereit waren, um der Gerechtigkeit willen Verfolgung auf sich zu neh- men.

Es ist Zeit, dieser Millionen von Menschen zu gedenken, die sich nicht eingefügt und Widerstand geleistet haben, die für die Würde und Rechte der Menschen eingetre- ten sind, die sich durch ein atheisti- sches Regime auch ihren Glauben an Gott nicht haben rauben lassen. Viele Tausende haben ihre Freiheit verloren, wurden aus ihrem Beruf, ihrer Familie herausgerissen, wur- den eingekerkert und sind in Ge- fängnissen gestorben. Durch Jahr- zehnte schien ihr Einsatz sinnlos und vergeblich.

Die gegenwärtigen Vorgänge las- sen uns etwas von der Richtigkeit des Wortes aus der Bergpredigt erahnen: „Selig, die um der Ge- rechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn ihr um meinet- willen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freuteuchundjubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn so wurden schon vor euch die Propheten verfolgt" (Mt 5, lOf).

Was sich im Osten ereignet, ist - auch wenn viele NichtChristen daran beteiligt sind - ein österli- ches Geschehen: Durchgang durch Leid und Tod zu einem neuen Le- ben, vom Kreuz zur Auferstehung. Um solche Vorgänge besser begrei- fen zu können, müssen wir auf Je- sus blicken. Er ist Urbild für alle, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. Wenn wir dies tun, erweitern und vertiefen sich Per- spektiven. Die Gerechtigkeit, um derentwillen Jesus verfolgt wurde, sprengt alle menschlichen Maße.

Jesus ist konsequent seinen Weg gegangen, hat gesagt und getan, was er für recht, wahr und gültig hielt. Er ist nicht nur für jene eingetre- ten, die Unrecht litten. Er ist nicht nur aufgetreten gegen jene, die den Sinn des Gesetzes verkehrten und Unrecht taten. Jesus ist auch - und das ist das Anstößige und Unge- wohnte - eingetreten für jene, die Unrecht tun. Auf ihn trifft das Wort des Propheten: „Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glim- menden Docht löscht er nicht aus; ja er bringt wirklich das Recht" (Jes 42,3). Und dies nicht nur für die armen und schwachen Sünder, mit denen jeder Mitleid haben muß, sondern auch für die reichen und mächtigen, wie sie der Zöllner, der mit der Besatzungsmacht kollabo- riert und die ohnehin Armen aus- beutet, repräsentiert...

Jesus wurde verfolgt, weil er die Ehebrecherin nicht verurteilt hat, weil er die Gastfreundschaft von fragwürdigen Menschen in An- spruch genommen hat, weil man fürchtete, daß er auf diese Weise die Moral untergräbt, weil man ihm vorwarf, sich durch seine Güte am Unrecht in der Welt mitschuldig zu machen. Jesus nimmt diesen Ver- dacht in Kauf. „Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht; er lädt ihre Schuld auf sich... Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein" (Jes 53, IIb, 12c). Jesus setzt sich nicht nur für die Opfer ein, sondern auch für die Täter. Er will auch sie nicht ver- urteilen, sondern sie gerecht ma- chen. Ein Ansinnen, das auch heute noch Empörung und Unverständ- nis hervorruft. Wir konnten etwas davon erleben, als Leute darüber empört waren, daß ein evangeli- scher Pastor bereit war, Honecker in sein Heim aufzunehmen.

Das Erstreben einer Gerechtig- keit, die auf Rache und Vergeltung verzichtet, die jedem Menschen, auch dem Verbrecher, eine Chance gibt, scheint utopisch, weltfremd und ungerecht. Es stößt auf Ableh- nung und Widerstand. Jesus aber hat standgehalten: „Ich hielt mei- nen Rücken denen hin, die mich schlugen, und denen, die mir den Bart ausrissen, meine Wange. Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel" (Jes 50,6f).

Mit Menschen wie Jesus kann man keinen Staat aufbauen. Das mer- ken selbst die Soldaten, die Jesus verhöhnen. Sie spüren intuitiv die Widersprüche. „Der unerbittliche Kritiker jeden Gewaltregimes trägt das imperiale Diadem, jedoch in der Gestalt der Dornenkrone. Der mitfühlende Hirt der durch ihn der Verlorenheit entrissenen Schafe trägt das herrscherische Zepter in der Hand, doch dies in Form eines zerbrechlichen Hysoprohr. Der ent- schiedene Verneiner eines kriegeri- schen Messiaskönigtums erscheint in dessen Insignien und wird von der ihm als .Sieger' huldigenden Truppe mit Küssen begrüßt, in Wirklichkeit aber bespuckt und besudelt" (Eugen Biser).

Jesus begründet sein Anstoß er- regendes Verhalten mit dem Hin- weis auf Gott: auf Gott, den barm- herzigen Vater, der auf den verlore- nen Sohn wartet; auf Gott, den guten Hirten, der den Verlorenen nachgeht; auf Gott, der seine Sonne aufgehen läßt über Böse und Gute und der es regnen läßt über Gerech- te und Ungerechte.

In Jesus zeigt sich: Gott ist nicht nur Herr, dem der Mensch zu die- nen hat; er ist auch Sklave, der den Menschen dient, der ihm die Füße wäscht. Ein Gottesbild, das alle Ordnungen verwirren muß. Das ist Gotteslästerung; das führt zur Anarchie der Güte. Eugen Biser sieht in der Korrektur des zeitge- nössischen jüdischen Gottesbildes einen wesentlichen Grund für das Todesurteil Jesu.

Jesus aber läßt sich von seinem Weg nicht abbringen. Er will nicht nur die Fesseln der Gefangenen lösen, er will auch die Kerkermei- ster zu Gerechten machen. Er will nicht nur den Archipel Gulag ab- schaffen, sondern auch den KGB- Of f izier gerecht machen. Jesus geht ungewohnte Wege und enttäuscht immer mehr seine Anhänger. Aus dem Hosanna wird das Crucifige. Jesus wird verfolgt um der Gerech- tigkeit willen, wie er sie versteht und lebt. Er wird gekreuzigt.

Die Auferstehung Jesu ist die Bestätigung, daß dieser Weg der Weg Gottes ist und trotz aller Ge- gengründe zum Ziel führt. „Selig die Verfolgung leiden um der Ge- rechtigkeit willen, ihrer ist das Himmelreich."

Nach einer alttestamentlichen Erzählung leben die Menschen von den wenigen Gerechten, die unter ihnen wohnen. Als Abraham für- bittend für Sodom und Gomorra eintritt, antwortet Gott in der Ge- stalt des Fremden: „Ich werde sie um der zehn Gerechten willen nicht vernichten" (Gen 18, 32).

Etwas von der Wahrheit dieses Wortes erleben wir gegenwärtig im Osten. Menschen, die versucht haben, gerecht zu sein, die bereit waren, um der Gerechtigkeit wil- len Verfolgung auf sich zu nehmen, sind zweifellos eine Mitursache für das, was sich dort ereignet hat.

Gibt es diese Gerechten auch bei uns im Westen? Wir haben Verfolg- te; aber nicht jeder, der verfolgt wird, wird um der Gerechtigkeit willen verfolgt. Man kann auch um der Ungerechtigkeit oder der Dummheit willen verfolgt werden.

Aber Gerechte, wie sie die Bibel versteht, brauchen wir dringend. Menschen, die konsequent ihren Weg gehen und tun, was sie für wahr und gerecht halten, die ein- treten für jene, die Unrecht leiden, die auftreten gegen jene, die Un- recht tun, die aber auch den Bösen und Ungerechten eine Chance ge- ben, sind tatsächlich das Salz der Erde, das die Welt vor der Fäulnis bewahrt, das Licht der Welt, das in der Finsternis leuchtet. Sie sind dies auch dann, wenn ihr Einsatz um- sonst zu sein scheint, wenn sie Opfer der Bösen oder Selbstgerechten, der staatlichen oder kirchlichen Ideo- logen werden.

Denn das ist die Botschaft von Ostern: Der Gekreuzigte ist der Auferstandene.

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