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Die andere Revolution

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Vor 50 Jahren, am 22. September 1939, starb Sigmund Freud im Londoner Exil“. Die heute herrschende sexuelle Freiheit und die Allgegenwart der von Freud geschaffenen Terminologie machen es vielen Menschen schwer, die Wut nachzu-vollziehen, mit der sich ein großer Teil der Gesellschaft gegen den Tabubruch, die Bewußtmachung der Bedeutung des Sexuellen im gesamten menschlichen Leben, wandte.

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Vor 50 Jahren, am 22. September 1939, starb Sigmund Freud im Londoner Exil“. Die heute herrschende sexuelle Freiheit und die Allgegenwart der von Freud geschaffenen Terminologie machen es vielen Menschen schwer, die Wut nachzu-vollziehen, mit der sich ein großer Teil der Gesellschaft gegen den Tabubruch, die Bewußtmachung der Bedeutung des Sexuellen im gesamten menschlichen Leben, wandte.

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Ein beliebter Gemeinplatz besagt, daß wohl kein Gedankengebäude und keine Interpretationsweise im 20. Jahrhundert das menschliche Selbstverständnis in ähnlicher Weise beeinflußt habe, wie die Freudsche Psychoanalyse. Diese Sicht bestätigt die Selbstdarstellung Freuds, der sich zu den Denkern und Forschern zählte, die zu umwälzenden Erkenntnissen gelangten und „an den Schlaf der Welt rührten“. Er erlebte sich selbst als Vollender der von Kopernikus und Darwin begonnenen Desillusionie-rung und gleichzeitigen Erkenntnis der wahren Bedingungen der menschlichen Existenz.

Tatsächlich sind bestimmte Aspekte der Psychoanalyse heute Allgemeinwissen und zu Elementen der populären Kultur geworden. Das ist nicht weiter erstaunlich, da dieser Prozeß bereits zu Freuds Lebzeiten begann. Die nicht-medizinische und außer-akademische Welt nahm die psychoanalytischen Erkenntnisse interessiert auf, benutzte sie für ihre Zwecke, banalisierte sie bisweilen, kam aber auf diesem Weg auch zu vertieften Fragestellungen in vielen Problembereichen.

Freud hatte diese Situation bereits in den zwanziger Jahren klar erkannt und führte sie selbst unter anderem darauf zurück, daß er mit der „Traumdeutung“, die er als sein wichtigstes Werk verstand, „die Grenzen der ärztlichen Wissenschaft überschritten“ hatte. Frühzeitig profitierten die Literatur- und Kunstwissenschaft, die Religionsgeschichte, die Prähistorie, die Mythologie, die Volkskunde, die Pädagogik von Anregungen, die Freud oftmals nur fragmentarisch bot. In all diesen Bereichen wurde der psychoanalytische Zugang als wertvoll erkannt. Daraus wieder ergab sich als Rückwirkung eine Erweiterung des Wesens der Psychoanalyse weit über ihr anfänglich enges ärztliches Feld hinaus.

In wichtigen medizinischen Kreisen hingegen fand die Freud'sche Lehre nur wenige Freunde. Und so verfehlt sie bis heute das vielleicht wichtigste der für sie entworfenen Entwicklungsziele: als Theorie und Praxis zur Grundausrüstung jedes Arztes zu zählen. Diese Integration wird auch dadurch entscheidend behindert, daß alte Standpunkte der Kritik an der Psychoanalyse unentwegt wiederholt werden und daß sich ein aktueller und modischer Trend entwickelt hat, gewisse biographische Daten aus dem Leben und Denken Freuds einer kritischen Betrachtung zu unterwerfen und auf der Schiene der Kritik am Menschen Freud zur Verwerfung seiner Lehre zu gelangen.

Die traditionelle Kritik baut auf der behavioristisch-neopositivistisehen Interpretation der Wissenschaftlichkeit auf. Sie besagt, daß der Psychoanalyse kein wissenschaftlicher Wert zukomme, da sie sich dem Experiment entziehe und zu nicht reproduzierbaren und nicht falsifizierbaren Resultaten gelange. Die Kritiker, die den neuen Trend verkörpern, werfen Freud wissenschaftliche Unredlichkeit und Inkonsequenz (Masson), Kleinlichkeit und Unmenschlichkeit im Umgang mit seinen Schülern und Mitarbeitern (Roazen) vor, wenn sie nicht überhaupt die Psychoanalyse als Ausfluß einer Kokainpsychose diskriminierten (E. M. Thomton).

All diese Angriffe scheinen am Kern des Problems vorbeizugehen. Der wissenschaftliche Charakter und Standort der Psychoanalyse wurde von Freud bereits im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts gegenüber der damals herrschenden szientistischen Kritik definiert und von Ferenczi und Rank 1924 ausführlich beschrieben. Auf diese alten Definitionen müßten sich auch moderne Kritiker beziehen. Es ist recht fraglich, ob es akzeptabel ist, daß die Wissenschaftlichkeit eines intellektuellen Systems nur daran bestimmt werden kann, daß sie einem bestimmten, gerade dominierenden Verständnis entspricht, den diesem Verständnis zugehörigen Kriterien genügt.

Die neue Freud-Kritik schließlich disqualifiziert sich selbst in ihrer Subjektivität, Engstirnigkeit und durch ein oftmals haarsträubendes Unverständnis psychoanalytischer Grundbegriffe.

Beachtlicher ist die Kritik an der Effizienz der Psychoanalyse als Form-psychotherapeutischen Handelns. Die Vertreter dieses kritischen Standpunktes meinen, daß die psychoanalytische Behandlung zu aufwendig sei, zu teuer zu stehen komme und außerdem in ihrer Wirksamkeit unbewiesen sei. Hier ist sicher einzuräumen, daß der Psychoanalyse als Therapie ein bestimmter Indikationsbereich entspricht und sie nicht als Allheilmittel gelten kann und soll. Außerdem tut man ohnehin gut, auch andern Formen der Psychotherapie gegenüber, die sich zumeist aus der Psychoanalyse entwickelt haben, aber diese Herkunft nicht gerne eingestehen, hinsichtlich ihrer Effizienz eine gewisse Skepsis zu wahren.

Ein kritischer Inhalt, der meines Erachtens emstgenommen werden müßte, wird erstaunlicherweise kaum je artikuliert: die Psychoanalyse scheint in ihrer Entwicklung den Kontakt zu anderen Wissenschaften, die auf verwandten Gebieten Forschung betreiben, verloren zu haben, oder nicht zu suchen. Freud verstand seine Lehre als Teil einer naturwissenschaftlichen Psychologie und war stets bestrebt, sie an aktuellen Erkenntnissen der Biologie zu messen oder mit diesen in Einklang zu bringen. Auch seine Mitarbeiter, ob sie nun Arzte waren, oder, wie Bernfeld oder Rank, Nichtmediziner, teilten dieses Interesse. Ferenczi und Rank gingen so weit, die Auswirkungen der Psychoanalyse als „biologischen Fortschritt der Menschheit“ zu bezeichnen.

Das heißt, daß heute psychoanalytische Theorien und Annahmen mit den Erkenntnissen der modernen Gedächtnis- und Lernforschung, Schlaf- und Traumforschung und der Neurochemie und -endokrinologie in Bezug gebracht werden müßten. Vielleicht müßte dann manches am Überbau des psychoanalytischen Verständnisses verändert werden: Freud hätte gegen eine derartige Entwicklung keine Einwände gehabt.

Obwohl wieder gerne totgesagt, wird die Psychoanalyse wohl nicht verschwinden; zu tief ist sie in unserer Kultur und unserem Weltverständnis - selbst bei ihren feurigsten Gegnern — verankert. Auch hatte bereits Freud gemeint: „Totgesagt ist ein Fortschritt gegen Totgeschwiegen“. Andererseits ist nicht abzusehen, ob das Entwicklungsziel der Integration ins medizinische Curriculum jemals erreicht werden wird.

Notwendig wäre dies allemal. Die Psychoanalyse ist bis heute immer noch die individuellste Behandlung, die die medizinische Wissenschaft je hervorgebracht hat, sie ist bis auf weiteres der beste Advokat, der dem verletzten und gestörten Individuum zur Seite steht. Bis auf weiteres ist auch die psychoanalytische Theorie die einzige Lehre, die unser Verständnis für die prekäre Situation des Individuums im Zivilisationsprozeß fördern kann.

Die desillusionierenden Erkenntnisse über die Wirksamkeit unbewußter Prozesse, frühkindlicher Erfahrungen und deren phantastischer Ausgestaltung und triebhafter Wünsche im Hintergrund des domestizierten, „reifen“ Charakters haben nichts an Sprengkraft eingebüßt. Sie sind weiter unbequem und in ihrer poUtisch-gesellschaft liehen Dimension allzusehr verleugnet.

Die selbstverständlich in vielem berechtigte Kritik an bestimmten zeit- und ortsgebundenen überholten Aspekten der Psychoanalyse und die kleinliche Freude an Enthüllungen über Freud sollte nicht dazu führen, daß die relevanten, notwendigen und imbequemen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die in Wirklichkeit mit den kritisierten Inhalten nichts gemein haben, mit diesen gleichgesetzt und gemeinsam verworfen werden.

Univ. Prof. Dr. Alfred Springer leitet da Ludwig Boltzmann-Institut für Suchtforschung und i t praktizierender Psychoanalytiker.

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