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Die Angst als Motor

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Nachdem die Angst in unserer Gesellschaft zu einem Tugend- Etikett für verantwortlich denkende Menschen geworden ist: Ist dies nun endgültig das oft beschworene Ende der Aufklärung, die von Unmündigkeit und Angst befreien wollte: die Angst zum Vorzeigen, Angst als Garant für verantwortliches Denken, Angst als das Motto für Rückzüge vor der Zukunft, Angst als Alibi für Handlungsverweigerun…ngst als die Kardinaltugend eines neuen Moralsystems?

Solange Menschen ihren Kosmos als wohlgeordnetes Ganzes verehren und fürchten, ist die Angst, jenes Gefühl der Enge, der Bedrohung aus unbestimmten Richtungen, des Würgens, der Beklemmung und Verlassenheit, kein philosophischer Gegenstand.

Angst ist auch Vertrauensverlust in die Ordnungen, mit denen gelebt wird. Der Verlust von Einbindungen in ein funktionierendes Ganzes, sei dies ein Staatswesen, sei es eine Religionsgemeinschaft, setzt die Subjektivität frei: auch jene zur Wertschöpfung und zur sittlichen Orientierung. Mit dem Verlust der Geborgenheit in vorgefügten Sinnsystemen entsteht Angst.

Wer Angst abschaffen will, muß die Welt selbst abschaffe…edium jener weltüberwindenden Tat, die Angstvernichtung bedeutet, ist die Liebe.

Die Psychologie unserer Zeit beschreibt Angst als Affektzustand, der schreck- und furchtgezeichnet ist. Kurzzeitig oder dauernd akut oder chronisch kann Angst einen Menschen befallen oder begleiten, aufflammend bei Anlässen, die an eine psychische Verletzung oder körperliche Bedrohung erinnern.

Sie kann sich verdichten zum Krankheitsbild, aus dem der Betroffene sich nicht mehr lösen kann. Angstzustände, auch solche, die subjektiv nicht erkannt und von Dritten nicht diagnostiziert werden, wirken auf das Verhalten eines Menschen ein. Soziale Gruppen erfahren durch kollektive Angstzustände massive Einflüsse auf ihr Verhalten nach innen und außen.

Die heutige Gesellschaft fördert den Normenverfall durch den Versuch, Freiheit des einzelnen auch als Freiheit von Angst zu verwirklichen. Die Angstsperre vor Gesetzesübertretungen lok- kert sich natürlicherweise im gleichen Augenblick, da Gegenstände der staatlichen Strafan-

drohung zur Disposition stehen, wie etwa die Eigentumsverhältnisse.

Wir wissen, daß auch solche Überschreitungen der Angstschwellen erlernt werden können. Die Häufigkeit des Durchbruchs zu sanktionierten Verhaltensbezirken führt schließlich zum Versagen jeder Warnung, die von der Angst vor Strafe und vor Selbstbestrafung durch Gewissensqualen ausgeht.

Die Funktionen der Angst für die soziale Ordnung und die Abgrenzung der Freiheitsrechte der einzelnen gegeneinander sind bezeichnenderweise in unserer Gesellschaft gegenwärtig kein Diskussionsthema.

Unser Thema ist vielmehr die Angst-Demonstration, die Beschwörung kollektiver Ängste, über die sich nachdenken läßt auf dem Hintergrund dessen, was die Wissenschaft, die Theologie und die Philosophie bisher über die Angst herausgefunden haben.

Eine Alternative zu dieser Ohnmacht liegt für die Gesellschaft des Diesseitsglaubens nicht vor; die eigenen Geschicke nun wieder in die Hände einer göttlichen Macht zurückzugeben, dies kann dem neuzeitlichen Selbstbewußtsein nicht mehr entsprechen.

So uns selbst überlassen, müßten wir in der Tat übermächtige Angst entwickel…eren ideenzündender Effekt endlich jene Energien zur Zukunftsgestaltung freisetzen könnte, zu deren Entwicklung wir uns nicht oder nur halbherzig entschließen, weil der Motor, die lebendige, aktivierende Angst, fehlt.

So paradox es klingen mag: Eine Gesellschaft, deren Angstorgane zerstört sind, ist eine Gesellschaft ohne Selbstvertrauen. Denn aus der Angstbeherrschung stammt unser Vertrauen in die eigene Kraft.

Uber Jahrzehnte haben wir an der Angstverdrängung gearbeitet, wir haben weggeplant und wegdiskutiert, weil wir dem Irrtum gefolgt sind, sie sei menschenunwürdig. Nun ist sie in ihren lebenserhaltenden Funktionen so verteilt, so irritiert durch die Abstraktion und Diffusion der Anlässe, daß ihre aktivierenden Qualitäten nicht mehr funktionieren: wir wissen nicht mehr, was wir uns Zutrauen können; deshalb fehlt uns der Mut für die Zukunft.

Die verbleibenden Anlässe für Angst und Schrecken, die uns die punktuelle Chance der Selbstheilung liefern könnten, paralysieren wir in ihren Wirkungen durch Kommentare. Wo der Schrecken uns fassen und zu uns selbst bringen will, da reden wir ihn uns vom Leibe. Wir haben das Leiden verlernt, weil wir seit Jahrzehnten mit einer leidfeindlichen Ideologie leben, die aus dem Irrtum entspringt, Leid habe nur destruktive und entwürdigende Funktionen …

Die Autorin ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Auszug aus einem Vortrag vor der Steirischen Akademie 1983.

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