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Die Angst der Snobs vor der falschen Etikette
Sie ereifern sich für Bücher, die sie nicht gelesen haben und auch nie lesen würden; sie wollen in allen Künsten das Ausgefallene, ob es nun primitiv oder manieriert ist; sie fahren in schicken Limousinen zu Gründemonstrationen; sie sind einerseits für den Fortschritt, anderseits für den Rückschritt in eine vorindustrielle Gesellschaft; sie sind Softys, Machos und aus lauter Schickseinwollen mitunter Homosexuelle; sie wol-
len um jeden Preis extravagant sein; sie spielen den Bürgerschreck, denn sie sind eigentlich erschrockene Bürger.
Ihre Zahl ist so groß, daß sie von der Modebranche, von den modischen Illustrierten und von den modebewußten Politikern gerne bedient werden: das bringt Geld, Ansehen, vielleicht sogar Wählerstimmen. Die Snobs fühlen sich durch solche Liebedienerei nicht nur in der Mitte ihrer ratlosen Seele geschmeichelt, sondern auch entschuldigt, bestärkt und bestätigt. Wenn die Werbung einer Schuhfabrik ihre Sprache spricht, wenn schmucke Illustrierte ihre Sehnsüchte umwe-deln, wenn ernste Politiker ihre parfümierten Parolen auf irgendwelche Fahnen schreiben, hat da ganz offenbar der Zeitgeist ge-
sprochen. Wer keinen Geist hat, klammert sich an den Zeitgeist.
Putzige Wechselwirkungen entstehen auf dieser Weise: modebewußte Snobs und modebewußte Politiker bestätigen sich gegenseitig, bilden eine aparte Allianz, treffen sich in einer sanften Diktatur der allgemein gültigen Meinungen und des alle verpflichtenden Geschmacks. Wer zur Szene gehört, mußte gestern für Andy Warhol schwärmen, muß heute für Nitsch sein, morgen die Mystik keltischer Wahrsager bewundern. Wenn der Mensch nicht weiß, wozu er eigentlich auf dieser Welt ist, bleibt ihm gar nichts anderes übrig als der Griff nach dem Schein eines Lebensinhalts. Sie ist eine leere Schatulle, trägt aber eine Etikette.
Auf diese Etikette kommt es an. Da man selbst so schwach ist, so zerstreut, so ratlos, so nervös und so schreckhaft, muß die Etikette kräftig wirken. Die elementaren Kräfte der Natur eignen sich zur Etikette in den verschiedensten Variationen. Wer aus der gut geheizten Wohnung kommt, schwärmt gerne für Sumpf und Auwald. Elementarkraft scheinen auch die Primitiven zu verkörpern: Schamanen, Buschmänner, Nubier, Indianer. Daß die Menschen, die man mit solchen Namen bzeichnet, in Wirklichkeit mitunter sehr komplexen Hochkulturen angehören, tut nichts zur Sache, denn Snobs sind ungebil-
det, haben ungebildet zu sein. Ihre Mattheit sträubt sich gegen den Kraftaufwand, etwas gründlich zu studieren: ihre Ziellosigkeit kann zielbewußtes Forschen nicht ertragen. Deshalb muß die Etikette möglichst exotisch wirken.
Wenn sie unüberprüfbar bleibt, ist auch die Nähe erträglich. Deshalb wirken Worte und Begriffe zauberhaft, deren Bedeutung man nicht genau kennt, deren lebendige Wirklichkeit man nie erlebt hat. Seit fünfzig Jahren leistet in dieser Hinsicht das Wort „Anarchosyndikalismus" gute Dienste. Der eine Schöngeist spricht es aus, der andere nickt dazu, und beide vereinen sich im süßen Schauder der völligen Ah-nungslosigkeit, doch im Gefühl, gemeinsam ein blutiges und zugleich verfeinertes Geheimnis zu hüten: Gralsritter der hochgezwirbelten Dummheit. Neuerdings plaudert man in derselben verschwörerisch-vielwissenden Manier über die Schadstoffe, die geeignet sind, die Luft zu vergiften. Die Empörung ist zum Teil berechtigt, aber so richtig süß und poetisch wird sie nur durch den Ausdruck „Emission"; das klingt nach Mission oder nach gefährlichen Emissären, die in geheimem Auftrag die frische Luft verpesten. Genauso angenehm labten sich die Snobs der Zwischenkriegszeit in der von ihnen nie verstandenen Begriffswelt der Freudschen Psychoanalyse.
Wir müssen mit ihnen, mit all diesen Snobs, vorläufig leben, denn die Verbreitung des Typus ist keine ägyptische Plage, sondern eine Folge der soziologischen Entwicklung: Landwirte haben sich in kleine Unternehmer, Arbeiter in Kleinbürger verwandelt, und der gesellschaftliche Stellenwechsel führt sie und vor allem ihre Kinder zu einem Rollenwechsel. Normen fallen, Ratlosigkeit tut sich auf, die Untugenden der früheren herrschenden Schichten sind nun endlich für jedermann erreichbar.
In solchen Zeiten zieht sich der Geist zurück. Er überwintert im Schatten. Man könnte die These wagen: Was heute von den Snobs aufgegriffen wird, disqualifiziert sich selbst. Was in ihrem Kreis Erfolg hat, kann nicht gut sein.
Allerdings: Die Etikette muß stimmen. Ob er „Neomarxismus" oder „neue Innerlichkeit" verspricht, ist den Snobs gleich. Sie wollen weder vom Marxismus noch von Innerlichkeit auch nur eine Ahnung haben. Sie wollen nicht sein, sondern sich durch das Sein mit Hilfe des Scheins irgendwie durchmogeln. Sie leben unter dem Druck ihrer eigenen Sub-stanzlosigkeit: Sie müssen mit der Mode gehen, sonst gehen sie aus der Mode und stürzen in die tiefe Leere ihres eigenen Wesens. Die Angst des Snobs vor der falschen Etikette ist die Angst vor dem Nichts.
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