6879540-1979_04_13.jpg
Digital In Arbeit

Die Angst vor den Fliegenfängern

19451960198020002020

„... in einem Universum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd. Aus diesem Verstoßensein gibt es für ihn kein Entrinnen, weil er der Erinnerungen an eine verlorene Heimat oder der Hoffnung auf ein gelobtes Land beraubt ist.“ So beginnt der vor über 20 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommene französische Philosoph Albert Camus seinen Essay über den „Mythos von Sisy-phos“, in dessen erstem Kapitel er bereits mit dem allerersten Satz auf das für ihn Wesentliche kommt: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“

19451960198020002020

„... in einem Universum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd. Aus diesem Verstoßensein gibt es für ihn kein Entrinnen, weil er der Erinnerungen an eine verlorene Heimat oder der Hoffnung auf ein gelobtes Land beraubt ist.“ So beginnt der vor über 20 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommene französische Philosoph Albert Camus seinen Essay über den „Mythos von Sisy-phos“, in dessen erstem Kapitel er bereits mit dem allerersten Satz auf das für ihn Wesentliche kommt: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“

Werbung
Werbung
Werbung

Camus faßte damit in wenigen kurzen Sätzen zusammen, was heute als Ergebnis der rund 30 Jahre alten „Suizidologie“, der Selbstmordforschung, vorliegt. Und Univ.-Prof. Erwin Ringel, jener Psychiater, der 1949 mit der erstmaligen Formulierung des „präsuizidalen Syndroms“ -einer Reihe von Merkmalen, an denen die Selbstmordgefährdung erkennbar ist - jenen Zweig der Psychiatrie und Psychologie eingeleitet hat, gibt ohne weiteres zu, daß seine Lehrmeister Dichter waren.

„Unter den Dichtern sind immer wieder auch die besten Psychiater zu finden“, schreibt er einleitend zu einem nunmehr erschienenen Werk,

„Unter den Dichtern sind auch die besten Psychiater zu finden“

seinem fünften über das Problem des Selbstmords. Hier setzt sich Ringel mit der Rolle des Selbstmords in der Kunst auseinander - nicht nur in der Literatur, auch in der Musik, soweit es sich um das gesungene Wort handelt, und in der bildenden Kunst.

Künstler, so lautet die Voraussetzung des Psychiaters, empfinden besonders intensiv, welche Zustände in der Psyche eines Verzweifelten vorherrschen. Sie sind imstande, diese Empfindungen in einer Art auszudrücken, daß sich viele Menschen dadurch angesprochen, „angerührt“ fühlen. Wie stark solch eine tiefe Beeinflussung sein kann, zeigt das Beispiel von Goethes „Werther“. „Goethe hat im .Werther' seine eigene Selbstmordproblematik gelöst - dafür haben sich Hunderte andere umgebracht“, faßt es Prof. Ringel zusammen, ohne seine Mißbilligung der nach außen hin kalten und gleichgültig scheinenden Reaktion Goethes auf die Suizid-Epidemie als Folge seines Werkes zu verbergen.

Mit diesem Beispiel belegt der Psychiater, wie ansteckend der Selbstmordgedanke sein kann - und wird auf tragische Weise durch die Tragödie in Guyana, wo sich fast 1000 Mitglieder einer amerikanischen Sekte kollektiv selbst umbrachten, bestätigt. „Jede Publikation über den Selbstmord ist mit einer ungeheuren Verantwortung behaftet“, meint Ringel, „weil es oft bloß eines kleinen Anstoßes bedarf, damit ein Mensch den letzten, endgültigen Entschluß zum Selbstmord faßt. Dieser Entschluß kommt immer mit einer ungeheuren Dynamik und wirkt, ist er einmal gefallen, fast eigengesetzlich. Der Mensch kann seiner eigenen Entscheidung nichts mehr entgegensetzen, die Dinge laufen so ab, wie er es oft phantasiert hat, er kann nicht mehr eingreifen.“

Das ist nicht verwunderlich, wenn man sich vor Augen hält, daß der Selbstmord der Abschluß einer Kette von Erfahrungen unbeschreiblicher seelischer Not ist - wenn man bedenkt, daß so gut wie jeder Mensch, der mit dem Gedanken an Selbstmord spielt, sich seelisch abkapselt, isoliert, nicht mehr kommunizieren

kann und letztlich auf der bewußten Ebene oft auch nicht mehr will.

Alle Aggression, die solch ein Mensch empfindet, Jahre und Jahrzehnte hindurch, wird nicht abgeleitet, sie ballt sich im Inneren zusammen und verdichtet sich zu Energie wie ein „schwarzes Loch“ im Universum, das alle Materie in sich hineinzieht, beim Selbstmörder auch die Hoffnung auf die Zukunft. Wer bei anderen kein Gehör, keine Beachtung, kein Verständnis findet, der neigt in vielen Fällen dazu, nicht nur das Wertvolle, das er in sich spürt, vor dem Unverstand des Außen zu verschließen, sondern auch seine destruktiven Phantasien - er richtet sie gegen sich selbst.

Caligula, so zitiert Prof. Ringel, hätte sich gewünscht, die ganze Erde und das gesamte Leben würde sich im Kopf eines Pferdes verdichten, den er dann abschlagen wollte. Der Selbstmörder schlägt seinen eigenen Kopf ab - in ihm verdichtet sich tatsächlich die gesamte Welt und das ganze Universum.

Beschwört Ringels Buch nicht dieselbe Gefahr herauf, die er warnend nennt: Daß latent Selbstmordgefährdete in diesem Werk einen Anlaß finden, auch für sich selbst die Konsequenz zu ziehen, von der es kein Zurück mehr gibt?

Dieses Buch ist voll von Beispielen aus der Literatur, die - besser vielleicht als jede noch so fundierte wissenschaftliche Arbeit - deutlich machen, wie es zum Selbstmord kommt und was im Selbstmörder vorgeht. „Ein echter Dichter bereichert die Psychopathologie mehr als hundert Laboratorien und tausend Gelehrte“, zitiert Ringel den deutschen Psychiater Bumke, und dem kann man hinzufügen: Er bereichert nicht nur die Psychopathologie, sondern jeden Menschen, den er mit seiner Aussage erreicht.

Ein Beispiel, vielleicht eines der eindrücklichsten unter allen angeführten Zitaten - es stammt von keinem Dichter, sondern von einer 21jährigen, die ein Jahr nach Verfassung des Gedichtes Selbstmord verübt hat:

„Mir träumte ein sonderbarer Traum ich wäre

eine Fliege und ich flog ich flog immerzu ohne Unterbrechung denn ich hatte Angst Angst -

vor den Fliegenfängern und ich flog und flog

und flog mich zu Tode sehr rasch Es war ein

kurzes Leben voll Angst

Und im Fliegenhimmel sagte man mir ich sei wohl keine Fliege denn Fliegen hätten keine Ahnung von der Existenz der Fliegenfänger und ich hätte langer und ohne Angst leben können denn

nicht alles worauf man sich setzt

sei ein Fliegenfänger

Ich aber habe auch

noch im Fliegenhimmel Angst

vor den Fliegenfängern.

Dieses Gedicht drückt selbst noch in seiner äußeren Form die Stimmungslage aus, die zum Selbstmord geneigt ist: Auf das Äußerste verengt, ruckweise, wie mit zugeschnürter Kehle hervorgestoßen. Fehlendes

Vertrauen zu sich selbst (der man ja nicht größer und wehrhafter ist als eine Fliege) vereinigt sich mit der zugrundeliegenden Angst - einer Angst, die nicht unbedingt zielgerichtet sein muß, die allgemein gehalten ist und bedeutet: Dieses Leben ist zu schwer für mich!

Warum verzagt der Lebensmüde, traut sich nicht zu, das Leben leben zu können? „Die ersten Lebensjahre sind entscheidend“, geht Prof. Ringel auf Forschungen ein, die nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen bis ins hohe Alter hinein die ausschlaggebende Rolle der frühen Kindheit erwiesen haben.

„In diesen ersten Lebensjahren des Menschen wird entschieden, ob der Mensch später eine optimistische oder eine pessimistische Grundhaltunghaben wird - das Urvertrauen ist hier der entscheidende Begriff. Hat man das Urvertrauen durch die liebevolle Zuwendung eines Menschen entwickeln können, prägt das ein ganzes Leben. Neuen Situationen wird man - wie man so sagt ,von Natur aus' - zuversichtlich und freudig begegnen. Anders, wenn das Urvertrauen nicht voll entfaltet ist oder fehlt. Dann werden neue Situationen, Aufgaben und Menschen primär Angst auslösen und erst nach und nach kann man an die Bewältigung der neuen Aufgabe gehen - das ist das Problem desjenigen, der sich nichts zutraut, der immer Angst vor dem Versagen hat - auch, wenn er im äußeren Leben anscheinend noch so .tüchtig' ist.“

Solche Menschen sind es, von denen gilt, was Camus gesagt hat: „Das Absurde kann einen beliebigen Menschen an einer beliebigen Straßen-

ecke anspringen. Es ist in seiner trostlosen Nacktheit, in seinem glanzlosen Licht nicht zu fassen.“

Das Absurde ist das Sinnlose und es ist die Manifestation des ersten Merkmals des präsuizidalen Syndroms: die Einengung, die die Lebenssituation, die Dynamik, die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Wertwelt betrifft.

Das oft Ausschlaggebende ist der abgebrochene (innere) Kontakt zu den Mitmenschen. „Daß Du mich liebst, macht mich mir wert“, zitiert

„Es überkam mich wie eine Vision: Ich schaute meine Umgebung mit neuen Augen an, als sähe ich sie zum ersten Mal.“

Prof. Ringel ein Dichterwort. Wer das Leben als unbewältigbare Aufgabe sieht, hat niemanden, der ihn sich selbst wert machen würde.

„Wenn einer laut um Hilfe schreit,

außer sich,

ist er zu leise für mich“, so drückt Georg Kreisler die Haltung der Umwelt aus. „Neugier ist alles, was sie zögernd geben“, formuliert Anton Wildgans die Enttäuschung des Lebensmüden.

Nach einer jüngsten Umfrage sind rund 60 Prozent der erwachsenen Österreicher nicht bereit, einem in Not befindlichen Mitmenschen zu helfen. Derart enttäuscht, setzt der Selbstmordgefährdete die „schwarze Brille“ auf und findet fortan die Bestätigung, daß alles um ihn herum grau und dunkel ist.

Wie verengt diese Sicht ist - sie ist auch schuld am Tod Romeos, der noch dazu an Informationsmangel leidet; er weiß nicht, daß Julia nur scheintot ist; Informationsmangel ist einer der wichtigsten Faktoren im Rahmen des Selbstmordproblems -das beweisen Zeugnisse von Menschen, die ihren eigenen Selbstmordversuch überlebt haben. Der Pianist Arthur Rubinstein berichtet: „Das Leben hatte mich in eine ausweglose Ecke gedrängt.“ Aber nachdem der Strick gerissen war: „Es überkam mich wie eine Vision oder eine Offenbarung: Ich schaute meine Umgebung mit neuen Augen an, als sähe ich sie zum ersten Mal...“ Rubinstein sah, daß sein bisheriges Leben nur „eine Kette von willkürlichen Erlebnissen“ war, auf die er immer nur reagiert hatte, und er entdeckte das „Geheimnis des Glücklichseins“: „Liebe das Leben bedingungslos im Guten wie im Schlechten.“

Der Künstler allerdings konnte einen „Fluchtweg aus dem Selbstmord“ einschlagen, der den meisten Menschen nicht zur Verfügung steht: Er schleppte sich nach seinem Selbstmordversuch ans Klavier und drückte seine ganze Not in Musik aus.

Wer solch ein Ventil hat, der kann sich dem Druck der Umstände entziehen.

„Leben und Sterben stehen in der Gewalt der Zunge“, zitiert der Psychiater die Bibel. Mit einem Gespräch kann man den Teufelskreis durchbrechen, den der Selbstmordgefährdete um sich aufgebaut hat, und den Paul Val6ry so ausgedrückt hat: „Für den Selbstmörder bedeutet jeder andere nur Abwesenheit.“

Das ist die Botschaft dieses Buches: Der Selbstmord kann nur dann verhindert werden, wenn die Menschen bereit sind, füreinander da zu sein - und das gilt nicht nur für Ärzte und Psychologen, Geistliche und Sozialarbeiter, sondern für jeden Menschen.

DAS LEBEN WEGWERFEN? Von Erwin Ringel. Verlag Herder, Wien, 1978, 282 Seiten, öS 268,-. '

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung