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Die Angst, zu kurz zu kommen

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Wir und die Fremden. Aversion wandelt sich in Aggression, Feindseligkeit schlägt in gewalttätigen Haß um. Überall in Europa, nicht nur in den Vororten von Paris, nicht nur in Hoyerswerda und Cottbus. Schockierende Bilder, für den deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker „erschreckend und beschämend".

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Wir und die Fremden. Aversion wandelt sich in Aggression, Feindseligkeit schlägt in gewalttätigen Haß um. Überall in Europa, nicht nur in den Vororten von Paris, nicht nur in Hoyerswerda und Cottbus. Schockierende Bilder, für den deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker „erschreckend und beschämend".

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Es sind Bilder, die auch hierzulande betroffen machen. Die einen, weil sie sich in ihrer Angst und Unsicherheit in Österreich ebenso betroffen fühlen, die anderen, weil sie das Gift gesellschaftlicher Zersetzung wirken sehen: Vorurteile, Feindbilder, Intoleranz.

Die Ausländer erhöhen die Arbeitslosigkeit der Einheimischen; wenn in einer Schule viele ausländische Kinder sind, sinkt das Unterrichtsniveau; die Ausländer mißbrauchen die Leistungen unseres Sozialsystems; ihre Religion und ihre Sitten sind schwer zu begreifen; sie sind einer der Gründe für Verbrechen und Gewalt, eine Gefahr für die persönliche Sicherheit - genau in dieser Reihenfolge hat das Eurobarometer für die EG-Staaten die Ängste der Europäer gegenüber den „anderen" herausgefiltert. Osterreich macht da, obwohl in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt, keine Ausnahme.

Das ist der Stoff, aus dem Politik geschneidert wird:„Ich finde es beschämend, daß 180.000 Arbeitslose gemeldet sind und noch immer 140.000 Gastarbeiter im Land sind" (Jörg Haider beim FPÖ-Neujahrstreffen 1988). Der Neuwahlantrag in Wien wird mit der ständig steigenden Zahl von ausländischen Kindern an Wiener Pflichtschulen begründet. Ausländer - auch Gastarbeiter -werden als parasitäre Sozialschmarotzer betrachtet. „Wien darf nicht Chicago werden" (Wiener FPÖ-Wahlslogan 1990).

Bei einer Politik mit diesen Emotionen steht eine Politik gegen die Emotionen auf verlorenem Posten, hat ein Gesprächspartner das Dilemma umrissen.Weder die sozial- noch die christdemokratische Aufforderung zur Solidarität hat Parteigänger im Oktober 1990 daran gehindert, in Wien dem FPÖ-Ruf zu folgen. Gerade in Arbeiterbezirken mußte die SPO große Einbrüche hinnehmen, hatte die FPÖ der ÖVP den zweiten Rang abgelaufen.

Zerrbild und Realität

Untersuchungen im Gefolge der Nationalratswahl, die die Motive für die Wahl der FPÖ herauszuschälen versuchten, haben trotzdem noch Protest- und Denkzettelüberlegungen vorne. Dann kommt Jörg Haider als Person, aber fast gleichauf bereits die Ausländerfrage. Womit der Stellenwert umrissen ist, den das Thema für die FPÖ hat.

Auch als die Österreicher nach ihren Erwartungen an die neue Koalitionsregierung befragt wurden, rangierte das Ausländerthema bereits im Spitzenfeld, weit vor dem Problem der Staatsverschuldung, von der EG-Beitrittsfrage gar nicht zu reden.

Zum Stimmungsbild der öffentlichen Meinung trägt auch die veröffentlichte bei. Kriegs- und Katastrophenvokabular („Ausländerheer", „Rumänenflut") weisen in Dimensionen, die sachlich unangemessen sind. Wer die Chronik-Seiten des Boulevards verfolgt, erfahrt ein Zerrbild der Realität. Die Berichterstattung über Gewaltverbrechen, über Mord und Totschlag, steht auch sonst - ohne den Ausländeraspekt - in ihrem Umfang in keinerlei Relation zur kriminialistischen Fall-Statistik. Jetzt erfährt sie eine zusätzliche Schlagseite.

Nährboden für die Ausländer-raus-Stim-mung, für das Dichtmachen der Grenzen. Die Überfremdungsangst geht um.

Ausländer sind nicht gleich Ausländer. Die 19 Millionen, die unsere Fremdenverkehrskassen klingeln lassen, wollen wir nicht missen. Willkommen in Österreich! Dann leben hierzulande - letztverfügbarer Stand vom Jahresende 1990-482.145 Ausländer, darunter 261.401 Gastarbeiter mit ihren Familien und 15.583 anerkannte Flüchtlinge. Nicht eingerechnet sind 22.789 Asylwerber und Personen mit Diplomatenstatus. Zusammen macht das einen Ausländeranteil von rund sechs Prozent an der Gesamtbevölkerung, der sich insgesamt und im internationalen Vergleich in Grenzen hält.

Dieser Ausländeranteil - der Bogen spannt sich vom Angestellten bei internationalen Organisationen bis zum türkischen Bauarbeiter, von der philippinischen Krankenschwester bis zum Flüchtling, vom chinesischen Gastronomen bis zum albanischen Asylwerber - wird aber subjektiv, weil nicht über das ganze Land gleichmäßig verteilt, sondern regional und lokal geballt, von nicht wenigen als bedrohlich empfunden.

Das „Wir" und das „Sie"

Kommentare und gewichtige Stimmen, die in dieser Situation an die Toleranz appellieren, prallen an der Stimmung ab. Wie aber ist dagegen anzukämpfen, wo ist der Hebel anzusetzen?

Die Fremdenangst, die Angst gegenüber dem Andersgearteten, auch dem Andersdenkenden, soll nicht verleugnet werden. Sie ist unterschiedlich ausgeprägt.

Sie tritt vor allem dort zutage, und das ist zuerst einmal nicht als Vorwurf gemeint, wo Ausländer in großer Zahl wahrgenommen werden. Am Beispiel Wiens, das am 10. November unter diesem (Un-)Stern wählt: Arbeiterbezirke, in denen man gedrängt Tür an Tür wohnt, wo das „Wir" und das „Sie" aufeinanderprallen, wo in Pflichtschulklassen der Ausländeranteil plötzlich auf 80 Prozent schnellt.

Schlüssel ist „Inländerpolitik"

Und es sind nicht die begütertsten Mitbürger, oft sogar ohnehin sozial benachteiligte Gruppen, die sich plötzlich mit den Ausländern konfrontiert sehen. Die Ordnung scheint aus den Fugen geraten, Unmut, Enttäuschung und existenzielle Bedrohung wachsen.

Der Appell der Politik, Ausländern gegenüber Toleranz und Solidarität zu üben, richtet sich somit vorrangig an Menschen, die sich selbst sozial und gesellschaftlich benachteiligt fühlen. Quasi: Um die Ausländer sorgt man sich, um uns nicht annähernd. Ein Gefühl, das Haider mit seiner FPÖ unmittelbar anspricht und ausspielt.

Der Schlüssel für eine vernünftige Ausländerpolitik, SPÖ und ÖVP müßten das begreifen, liegt jetzt in einer „Inländerpolitik". Diese Menschen müssen sich in ihrer Angst und Sorge auch angenommen fühlen, müssen erfahren, daß die Aufnahme von Ausländern nicht auf ihre Kosten und zu ihren Lasten geht, daß kein Grund zum Neidkomple,x besteht.

Nein, die Bedeutung der Bewußtseins-bildung, soll hier nicht geringgeschätzt werden, ein langwieriger und mühsamer Prozeß. Aber es muß rasch und gezielt etwas geschehen, Wertschätzung muß erfahrbar werden, damit nicht auch bei uns Aversion in gewalttätige Aggression umschlägt.

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