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Die Anti-Freud-Saga

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26. Juli 1971: Eröffnung des 27. Psychoanalytischen Kongresses in der Neuen Hofburg. 2400 Teilnehmer aus Ländern der nichtkommunistischen Welt feiern die endliche Heimholung der Wissenschaft Sigmund Freuds in sein Land. Sie tun es unter den Porträts der geistigen Ahnen jenes Österreich, das es nicht mehr gibt: des katholischen, des konservativen, des kultivierten multinational empire. Wissenschaftsminister der Republik und Vizebürgermeister der Stadt Wien, zwei Damen der ersten Gesellschaft des nunmehr sozialistisch gewordenen Österreich, machen für das Land die Honneurs; für das Land, in dessen Mitte Freud das Schicksal erfuhr, das jeden Propheten des Neuen trifft.

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26. Juli 1971: Eröffnung des 27. Psychoanalytischen Kongresses in der Neuen Hofburg. 2400 Teilnehmer aus Ländern der nichtkommunistischen Welt feiern die endliche Heimholung der Wissenschaft Sigmund Freuds in sein Land. Sie tun es unter den Porträts der geistigen Ahnen jenes Österreich, das es nicht mehr gibt: des katholischen, des konservativen, des kultivierten multinational empire. Wissenschaftsminister der Republik und Vizebürgermeister der Stadt Wien, zwei Damen der ersten Gesellschaft des nunmehr sozialistisch gewordenen Österreich, machen für das Land die Honneurs; für das Land, in dessen Mitte Freud das Schicksal erfuhr, das jeden Propheten des Neuen trifft.

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Das Bewußtsein einer einstigen Fehlleistung des Landes kommt diesmal nicht mehr so drastisch zutage wie vor einigen Jahren, bei der Enthüllung der Gedenktafel am Wohnhaus Freuds in der Berggasse 19; als einer „hochgezüchteten Clique von Ignoranten und Intriganten“ nachgesagt wurde, sie hätten dem jungen genialen Forscher auch den kleinsten Erfolg geneidet. Indessen bestätigt auch jetzt der Wissenschaftsminister der Republik ausdrücklich die historische Schuld jener Behörden der Hochschule, des Landes und der Stadt, die einstens nicht imstande gewesen sind, Freuds Lehre in ihrer Bedeutung zu erkennen und zu würdigen. Tags darauf werden in dem biographischen Vortrag über Freud die Schuldigen ausdrücklich genannt: die katholische Kirche, die Kleinbürger und alle Gruppen, in denen sich der Antisemitismus von damals verbreitete. Es sind die Akteure in der Anti- Freud-Saga, wie sie Friedrich Heer aufzuspüren pflegt: klerikale Antisemiten, intelligenzfeindliche Kleinbürger, Dreiviertelhirne vom Kaliber des Bielohlawek.

Das aber ist nicht die Welt, in der sich vor achtzig Jahren die wissenschaftliche Laufbahn des dreißigjährigen Freud entschied; denn über dieses geistige Klima schreibt Stefan Zweig, daß „neun Zehntel von dem, was die Welt als Wiener Kultur des 19. Jahrhunderts feiert, eine vom Judentum geförderte, genährte oder sogar schon selbst geschaffene Kultur“ war. Von 681 Anwälten sind 394 Juden, von 360 Anwärtern 310. Die meisten Ärzte, fährt Heer wiederum fort, sind Juden. Der Wiener medizinischen Fakultät gehören vierzehn Juden als Inhaber von Ordinariaten und Extraordinariaten an. Im Wintersemester 1889/90 sind an derselben Fakultät 48 Prozent der Hörer Juden. Nachher, um 1925, bemerkt Max Graf, jüdische Journalisten seien in Wien seit jeher in der Überzahl gewesen, seien treibende Elemente geworden. Was Benjamin Disraeli, grand old man der englischen Konservativen, eine Generation vorher diagnostizierte, geschieht: Die öffentliche Meinung spricht im Druck. Die Vertretung durch die Presse ist weit vollständiger als die durch das Parlament.

Es war die Zeit, in der Georg von Schönerer, der Vorläufer des Adolf Hitler, den bekannten Publizisten und Historiker Heinrich Friedjung noch seinen geschätzten Con-Nationalen nannte und nicht den Kohn-

Nationalen Hersch Friedjung. Obwohl bereits seit 1882 in Wien die jüdische Verbindung Kadimah bestand, suchte Theodor Herzl, Begründer des Zionismus, seine nationalistischen Ideale in einer Wiener Burschenschaft. Arthur Schnitzler erlebt ihn „mit blauer Albenkappe und schwarzem Stock mit Elfenbein- griff, in Reih und Glied mit den Couleurbrüdem“. Der Burschenschaftler Viktor Adler wieder möchte seine „Arminia“ mit der „Philadelphia“ des Adolf Braun zu einem Bund verschmelzen. 1920 noch klagt „The Time" den „jüdischen Pangermanismus“ unter den Mittelmächten des Ersten Weltkrieges an.

Antisemiten vs. Juden, das fing nicht mit einem erklärten Freund- Feind-Verhältnis an. Denn herrschender Zeitgeist war der des Liberalismus, der in der Universität, im Rathaus, in der niederösterreichischen Statthalterei und in den Ministerien das Heft fest in der Hand hielt In den Büros sollte diese Macht noch Jahrzehntelang nach dem politischen Fiasko des Liberalismus fortwirken. Erst 1911 schied der 1889 ins Amt gekommene Statthalter von Niederösterreich, Erich Graf Kielmannsegg, unversöhnlicher Gegner des christlichsozialen Lueger und zugleich Vorstand der Oberbehörde des Wiener Magistrats aus dem Amt. Und für „ausgesprochen klerikale Bewerber“ war in der Monarchie das Unterrichtsministerium off limits.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der siegreiche Liberalismus im „katholischen Österreich“ die Katholiken in ein intellektuelles Getto gejagt. Die Theologische Fakultät war eine Exklave der Universität. Als sich Freud um die Dozentur bewarb, wurden Bewerber um einen Lehrstuhl, deren katholische Herkunft und Anschauung manifestiert waren, von den kompakten Mehrheiten der Professorenkollegien ipso facto disqualifiziert; weil sie einer Erfassung dessen, was man „voraussetzungslose Wissenschaft“ nannte, nicht fähig und außerdem die Gefahr für die „Freiheit der Wissenschaft“ zu sein schienen. Bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts konnte an der Universität Innsbruck ein Professor der dortigen Theologischen Fakultät niemals Rektor werden; und an anderen Hochschulen konnten sich Theologieprofessoren als Rektoren nur halten, wenn sie mitschwammen im Mahlstrom. Und zum Beispiel den seit 1900 für katholische Verbindungen beste henden numerus clausus aufrechterhielten.

1966 bereits hat K. R. Eissler anläßlich einer polemischen Auseinandersetzung über die Daten der akademischen Laufbahn Freuds darauf hingewiesen, daß Freuds Psychoanalyse hauptsächlich „wegen der gegen den Common sense verstoßenden Inhalte ihrer Befunde und Theorien abgelehnt wurde“. Common sense aber ist nach englischem und amerikanischem Wortgebrauch ein relevantes Kriterium; bedeutet es doch nicht weniger als gesunder Menschenverstand. Jetzt, 1971, bestätigt der aus Wien stammende und in den USA lebende Psychoanalytiker Emst Ticho in seinem biographischen Beitrag zum Thema „Freud und die Wiener“, daß Freud letzten Endes nicht der Antisemitismus im Wege gestanden sei, sondern die „Schockwirkung“, die von seinen Ideen und Schriften über die Sexualität ausgegangen sei.

Das Wagnis des Schöpferischen

Gerade dieses kalkulierte Risiko hat Freud selbst und ausdrücklich in der Krise seiner akademischen Lauf bahn (vor und nach 1900) akzeptiert. In einer dramatischen Unterredung, die Freud mit dem großen Psychiater der Wiener medizinischen Schule Krafft-Ebing und mit dem gleichalterigen Wagner-Jauregg führt, beschwören ihn die beiden Fachkollegen, um der Karriere willen von der Publikation der „abwegigsten medizinischen Hypothesen“ vorläufig abzusehen; eine „übereilte Veröffentlichung“ und die Gefahr einer Verletzung der „wissenschaftlichen Exaktheit“ zu vermeiden. Aber Freud hält dem Lehrkanzelvorstand entgegen: ob dieser, Krafft-Ebing, als er am Beginn seines Aufstiegs stand, gezaudert hätte, indem ihm gewiß wurde, daß ihm wegen seiner „Psy- chopathia sexualis“ Ablehnung und Schmach treffen würde. Und also publizierte Freud.

Freud entschied sich für das, was Beethoven tat, was Mahler auf sich nahm, was jeder schöpferische Mensch tun muß: Im Bewußtsein der Erstmaligkeit und Einmaligkeit eines Werkes, die Gefahr des Scheiterns und die damit verbundene persönliche Tragik auf sich zu nehmen. Niemand kann dem schöpferischen Menschen dieses Wagnis abnehmen. Nach all dem und angesichts der Proportionen, in die Freuds Werk geriet, ist es läppisch, mit dem Zollstock nachzumessen, ob die ihm zuteil gewordene Förderung eines Habilitations verfahrens eine über- oder unterdurchschnittliche gewesen ist. Solche Berechnungen hängen mit dem Fehler zusammen, der in der irrigen Annahme besteht, das österreichische Hochschulrecht würde so etwas wie eine turnusmäßige „Beförderung“ eines habilitierten Dozenten zum Extraordinarius oder Ordinarius kennen. Die staatliche Hochschulverwaltung verwehrte in der Krise von Freuds Laufbahn die Lehrkanzel nicht dem Freud; es offenbarte sich vielmehr einmal mehr jene traditionelle Malaise, der man mangels Ent gegenkommen der Finanzverwaltung bis zuletzt nicht beikommen konnte: Daß nämlich dann, wenn die außergewöhnliche Kapazität neu auftritt, die notwendige Lehrkanzel für diese entweder nicht systematisiert oder nicht vakant oder nicht disponibel ist, weil zum Beispiel im letzteren Fall ein anderer Bewerber von der Hochschule vorgeschlagen ist.

Freud erlebte jene bittere Stunde, in der es scheint, als gelte der Prophet nur wenig im eigenen Lande. Das eigene Land, das war im Falle Freud nicht einfach Wien und Österreich, die Universität und das herrschende geistige Klima; es war das Fach, das von Freud kreierte Fach, und die dafür zuerst gewonnenen Anhänger. Nacheinander brach Freud mit Anhängern oder wurde von ihnen verlassen. 1902 geschah es mit Wilhelm Friess, 1911 mit Alfred Adler, 1913 mit C. G. Jung. In dieser Vereinsamung, zu der ein von der Universität abgeschichtetes Dasein in der Berggasse gehörte, stieg anderseits die Zahl der Hörer; stieß Freuds Theorie zu tieferer Selbstgewißheit vor, entstand die internationale Resonanz. Äußere Zeichen des Erfolgs und Reifen des wissenschaftlichen Werkes entsprechen einander selten im Leben.

Am 23. Dezember 1919, siebzehn Jahre nach der ersten Tituüerung Freuds durch Franz Joseph, vollzieht das erste Staatsoberhaupt der Republik die Verleihung des Titels eines „Ordentlichen Universitätsprofessors“. In der Präsidentschaftskanzlei amtiert der Sozialdemokrat Karl Seitz, im Wiener Rathaus der Sozialdemokrat Jakob Reumann, im Niederösterreichischen Landhaus der Sozialdemokrat Albert Sever und im Unterrichtsministerium Otto Glöckel. Aber das, was die neuen Herren im Vergleich zu den früheren mehr gaben, macht nicht viel aus: Ein Titel mehr; keine Lehrkanzel, keine Klinik, kein Institut, kein Professorengehalt.

1924 ernennt die Stadt Wien Freud zum „Bürger der Stadt Wien“. Wieder geschieht es mit deutlichem Abstand zu der Ehrung, die im gleichen Jahr Richard Strauss zuteil wird; er wird „Ehrenbürger“ und erhält so wie der Zivilrechtler Franz Klein die höchste von der Stadt zu vergebende Auszeichnung. Was 47 Jahre nachher der Wissenschaftsminister moniert, hält an: Auch im republikanischen Österreich kennen und würdigen die Zeitgenossen nur unvollkommen den Rang und die Bedeutung ihres Zeitgenossen Freud. Und noch 26 Jahre nach dem Ende des Hitlerismus, 1971, gibt es in Wien keine Straße oder Gasse, die Freuds Namen trägt.

Freud war kein politischer Mensch. Man könnte sich manches Regime denken, das sich mit seinem Renomée nachträglich die Reputation aufputzen möchte. Aber in das parteipolitische Abszissen- und Ordinatennetz paßt Freuds Persönlichkeit und Werk nun einmal nicht. Schon bescheinigt in diesem Jahr 1971 auch die Neue Linke: Freud sei „Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft", wenn auch nicht deren Apologet. Und: Psychoanalyse sei die „libido-ökonomische Theorie der bürgerlich-kapitalistischen Welt“; in ihr gerinne „die Erfahrung der Lebensnot des bürgerlichen Subjekts“.

Stünde Freud in einer Stunde wie dieser unter uns, er würde inmitten der Reklamationen: Er war unser, und der Ablehnungen: Nein, nein, nochmals nein, wahrscheinlich wie Marx von sich sagen: Ich bin Freud, aber ich bin kein Freudianer.

Indem Freud die Religion als Zwangsneurose diagnostizierte, erweckt es heute weniger Auseinandersetzungen als mit seiner Feststellung, wonach Gott nichts als eine „Vatergestalt“ sei. In einer „vaterlosen Gesellschaft“ wie der unsrigen bedeutet das eine Erfassung des Verhältnisses des Kindes zum Vater, die asymptotisch herankommt an Paulus: Gott, nach dem alle Vaterschaft auf Erden genannt ist. Freuds antireligiöses Schrifttum paßt jedenfalls nicht in das herrschende Schema der anti- christlichen Pilosophien des dialektischen Materiaüsmus und des wissenschaftlichen Positivismus. Es ist nicht vollends rationalistsich und es reflektiert auf das tragische Motiv im Leben des Menschen, auf die „Erfahrung der Lebensnot“; aber nicht auf jene „bürgerlichen Subjekte“, sondern auf die des Menschen. Und das ist sehr viel in unserer Zeit.

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