6801774-1971_38_07.jpg
Digital In Arbeit

Die Anti-Uberfremder

19451960198020002020

‚,Der politische Stellenwert der Parlamentswahlen in der Schweiz ist nicht ganz der gleiche wie in anderen Ländern, nimmt doch der Bürger auch zwischen den Wahlen durch Initiative und Referendum kontinuierlich an der Bestimmung der politischen Marschrichtung teil.“ So kommentierte die „Neue Zürcher Zeitung“ die Ausgangslage zum eben begonnenen Wahlkampf. Der Kommentator ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er den auf den 31. Oktober anberaumten Wahlen höchstens noch „als politisches Barometer“ eine „besondere Bedeutung“ zumißt.

19451960198020002020

‚,Der politische Stellenwert der Parlamentswahlen in der Schweiz ist nicht ganz der gleiche wie in anderen Ländern, nimmt doch der Bürger auch zwischen den Wahlen durch Initiative und Referendum kontinuierlich an der Bestimmung der politischen Marschrichtung teil.“ So kommentierte die „Neue Zürcher Zeitung“ die Ausgangslage zum eben begonnenen Wahlkampf. Der Kommentator ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er den auf den 31. Oktober anberaumten Wahlen höchstens noch „als politisches Barometer“ eine „besondere Bedeutung“ zumißt.

Werbung
Werbung
Werbung

Mag es Gründe geben für eine solche Interpretation, so sind sie doch mindestens für die Wahlen vom Herlbst 1971 weit weniger maßgebend als für die anderer Jahre. Das wesentliche Moment einer veränderten politischen Landschaft ist die Tatsache, daß erstmals in der Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft die Frauen gleichberechtigt an nationalen Wahlen aktiv und passiv teilnehmen können. Natürlich darf dieser Umstand in seiner Wirkung nicht überschätzt werden. In den kantonalen und kommunalen Wahlgängen und Abstimmungen, an denen die Frauen bereits partizipieren konnten, hat sich nämlich gezeigt, daß ihre Mitwirkung in keiner Weise einen Unsicherheitsfaktor darstellt. Im Gegenteil: Meistens hat sich das Zahlenverhältnis dadurch sogar noch versteift. Die bisherigen Statistiken zeigten, daß die Frauen in der Politik ähnlich oder gar gleich reagieren wie die Männer, und dies nicht etwa nur in bezug auf die gewählte Parole oder Partei, sondern auch in bezug auf die Stimmbeteiligung.

Viel entscheidender dürfte die Mitwirkung der neuen Generation sein. Besonders in den Städten — allen voran in Zürich — hat sich ja auch in der Schweiz in den letzten Jahren aus der Jugend heraus eine Unruhe entwickelt, die sich bestimmt in dieser oder jener Form in den Wahlen miederschlägt. Niemand wird natürlich einen kommunistischen Wahlsieg oder gar den Einzug einer maoistischen Gruppe ins Parlament erwarten. Wichtiger als dieses rein zahlenmäßig erfaßbare Resultat ist vielleicht etwas, was sich bereits jetzt sehr deutlich abzeichnet: die vermehrte Einflußnahme der Jugend auf die Wahlkampfvorberei- tungen der Parteien, sei es durch einen vermehrten Drude der Jugend auf die Parteien, sei es durch das Buhlen der Parteien um die Jugend.

Es ist zum Beispiel interessant, daß selbst die christlichdemokratische Volkspartei, die bisher nicht nur dem Namen nach ausgesprochen konservativ war, sich danach ausrichtet. In einzelnen Kantonen ist sie davon abgegangen, einfach die „alteingesessenen“ Parlamentarier an die Spitze der Wahllisten zu stellen und dieser dann eine dekorative Garnitur, die keinerlei Siegeschancen haben soll, folgen zu lassen. Einzelne Listen sind nun, unbeschadet der parteipolitischen „Verdienste", einfach nach alphabetischen Gesichtspunkten aufgestellt worden, was einen doppelten Effekt haben muß: Entweder machen sich die Wähler keinerlei spezielle Gedanken, legen also die unveränderte Liste ein, dann riskieren ausgesprochene „Parteibonzen", nicht wieder gewählt zu werden. Oder aber die

Wähler überlegen sich etwas, bevor sie an die Urne gehen, dann müssen sie — was nach schweizerischem Gesetz zulässig ist — die Listen verändern. Sie können entweder die Reihenfolge vertauschen, sie können aber auch einzelne Namen doppelt setzen oder sie können gar von anderen Parteilisten einzelne Namen auf ihre eigene gewählte Liste setzen. Dies alles bedingt aber, daß der Wähler wirklich „auswählt“ und daß anderseits der Kandidat sich heftig um die Wählerstimme bewerben muß.

In beschränktem Ausmaß kommt ein Unsicherheitsfaktor ins Spiel, weil einzelne Kantone nun weniger, andere aber mehr Abgeordnete ins Parlament zu entsenden haben äts bisher. Dies ergibt sich daraus, daß die Zahl der Parlamentarier der ersten Kammer auf 200 fixiert ist, eine Zahl, die je nach Bevölkerungsstärke auf die 22 Kantone aufgeteilt werden muß. Die Anpassung erfolgte nun nach der Ende 1970 durchgeführten Volkszählung, die in einzelnen Gebieten eine zahlenmäßige Stagnation, teilweise sogar einen Rückgang ergab, wogegen andere Zunahmen. Diese Verschiebung führt nun im einen oder anderen Kanton zum Verlust eines Sitzes, der von einem unbestrittenen Kandidaten eingenommen wird. Der Kampf um den „Abstieg“ wird nun eben so hart geführt wie im Sport, wenn es darum geht, das Niveau der National- oder der Bundesliga zu halten!

Am meisten Verwirrung in die Wahlspekuiation aber bringt das Auftreten neuer Parteien. Die Europäischen Föderalisten werden sicher keine allzu große Beunruhigung verursachen. Auch die sogenannten „Progressiven Organisationen“, die höchstens dem linken Flügel der bisherigen linken Parteien — also den Sozialdemokraten oder den Kommunisten — etwas zusetzen können, ohne jedoch eine eigentliche Erschütterung auszulösen. Viel entscheidender ist die Bewerbung der „Antiüberfremder“. Man erinnert sich, daß im Juni 1970 das Schweizer Volk über eine von Nationalrat Doktor James Schwarzenbach eingereichte Initiative abzustimmen hatte, die in massivem Umfang die Wegschaffung von ausländischen Arbeitskräften aus der Schweiz gefordert hatte. Zwar erreichte Schwarzenbach nicht die Mehrheit der Stimmen, aber die Zahl der Befürworter lag ganz knapp unter der Hälfte, so daß hier ein politisches Potential vorhanden ist, das nun von zwei Gruppierungen ausgeschöpft werden möchte. Die eine ist die „Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat“, eine Organisation, die einst von Schwarzenbach gegründet worden war, von der er sich inzwischen jedoch halbwegs abgesetzt hat, weil ihm offensichtlich vor den Geistern graut, die er gerufen hat. Deshalb hat er dann die „Schweizerische Republikanische Bewegung“ gegründet, die etwas mehr gentlemanlike und gemäßigt die gleichen Ziele verfolgt. Da die beiden Gruppen vermutlich eine Listenverbindung eingehen, wird man letzten Endes die beiden Ergebnisse aber doch addieren können. Es gibt ernsthafte Beobachter, die glauben, die beiden „Antiüberfremder“ hätten ohne weiteres die Möglichkeit, zehn oder gar noch mehr Nationalräte zu erküren.

Getrennter Erdrutsch

Dies wäre für die sonst mehr als stabilen schweizerischen Verhältnisse doch bereits so etwas wie ein Erdrutsch, und vor allem müßte man dann sehen, auf wessen Kosten ein solcher „Rechtssieg“ errungen wird. Vor vier Jahren hatte sich folgendes Bild ergeben (in Klammern die Verschiebung gegenüber 1963): Freisinnig-demokratische Partei 49 {—2), Konservativ-christlichsoziale Partei 45 (—3), Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei 21 (—1), Sozialdemokratische Partei 51 (—2), Liberal- konservative Partei 6, Landesring der Unabhängigen 16 (+6), Demokratische Partei 3 (—1), Evangelische Volkspartei 3 (+1), Partei der Arbeit (Kommunisten) 5 (+1), Nationale Aktion (James Schwarzenbach) 1 (+1).

Die „Neue Zürcher Zeitung“ behauptete: „Vor vier Jahren wurde der Gewinn von 6 der 200 Mandate durch den Landesrinig geradezu als beunruhigendes Symptom einer beginnenden politischen Unsicherheit registriert.“ Diese Behauptung trifft höchstens auf die Wahlstrategen der Freisinnigen Partei zu, deren Organ die „Neue Zürcher Zeitung“ ja ist Das Volk hat es im allgemeinen begrüßt, daß die Gefahr einer politischen Erstarrung offenbar überwunden war, und selbst jene Parteien, die unter dem Erfolg des Landesrings zu leiden hatten, rafften sich inzwischen, nicht zuletzt dank dieser Niederlage, zu einer Selbstbesinnung auf. Ein Wahlsieg der „Antiüberfremder“, der eindeutig in der Luft liegt, wäre jedoch etwas ganz anderes. Die positive Seite, daß er eine gewisse „Beweglichkeit" unter Beweis stellen würde, wäre gewaltig von der politischen Zielrichtung dieser Gruppierung überschattet. Insofern wäre dies ganz einfach eine Entwicklung, die sich die Schweiz nicht leisten kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung