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Die Armut nimmt zu

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Die Vorbereitungen für die Dritte Entwicklungsdekade haben begonnen. Gleichzeitig wächst in den industrialisierten Ländern die Gegnerschaft gegenüber der sogenannten Entwicklungshilfe stark an. Sie kommt aus zwei sehr ungleichen Lagern: Von denen, die sie als verkappte Form der Ausbeutung betrachten, und von denjenigen, die „immer schon“ jeden vergebenen Schilling als verlorene Liebesmüh angesehen haben.

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Die Vorbereitungen für die Dritte Entwicklungsdekade haben begonnen. Gleichzeitig wächst in den industrialisierten Ländern die Gegnerschaft gegenüber der sogenannten Entwicklungshilfe stark an. Sie kommt aus zwei sehr ungleichen Lagern: Von denen, die sie als verkappte Form der Ausbeutung betrachten, und von denjenigen, die „immer schon“ jeden vergebenen Schilling als verlorene Liebesmüh angesehen haben.

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Der Abstand zwischen Entwick-lungs- und Industrieländern ist in den letzten Jahren gewachsen, die Unterschiede zwischen Arm und Reich in den Ländern der Dritten Welt haben sich verschärft, die Zahl der Armen ist überall gestiegen. Fast eine Milliarde Menschen lebt am Rande der Existenz, im Jargon der

Statistiker wird dafür der Terminus „absolute Armut“ verwendet.

Die Bedingungen in den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Wohnen, Bildung und Beschäftigung haben sich im Verlauf der letzten zwanzig Jahre deutlich verschlechtert; am schwersten davon betroffen sind Frauen und Kinder. Das starke Bevölkerungswachstum verschlimmert die Probleme in allen Bereichen.

Besonders kritisch ist die Lage in den ländlichen Gebieten, die mit Ausnahme einiger Wachstumspole stagnieren und ihre Bewohner nicht mehr ernähren können. Im Zuge der Völkerwanderung in die Städte, die die Erwartungen hinsichtlich Arbeit und Aufschwung nicht erfüllen können, haben sich um die Siedlungen der Reichen riesige Elendsviertel ge-büdet. Die Armen in Stadt und Land sehen sich zusehends isoliert und von der offiziellen Entwicklungspolitik vergessen.

Von Anfang an bewegte sich die mit Optimismus und Schwung gestartete Entwicklungshilfe im Rahmen eines umfassenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Vorstoßes in das - seinerzeitige - Vakuum der Dritten Welt, dessen Motive Sicherung politischen Einflusses, Abgrenzung von Interessenzonen, Erschließung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten und die Nutzung billiger Arbeitskräfte waren.

Entwicklungshilfe als Teil der Außenpolitik und des Außenhandels

Neben den Regierungen der Industrieländer, die zunächst ganz im Zeichen der Auseinandersetzung zwischen Ost und West agierten, war eine breite Palette privater Unternehmen um die wirtschaftliche Eroberung dieser Regionen bemüht. Mit wirtschaftlichen Mitteln wurde schließlich auch die Integration in das westliche System erreicht. Die Eliten dieser Länder spielten in dem Prozeß, der an die im Kolonialismus geprägten Strukturen und Beziehungen anknüpfte, eine entscheidende Rolle.

Die Folge dieses Großeinsatzes gegen Rückständigkeit und Unterentwicklung in der Dritten Welt, war in erster Linie ein explosionsartiger Aufschwung der westlichen Industrieländer, gleichzeitig aber, trotz teilweise sehr hoher Wachstumsraten, eine immer größere Benachteiligung der Entwicklungsländer, die sich in den Handelsbeziehungen und in der Kontrolle und Verwendung der natürlichen Ressourcen und Energien besonders deutlich zeigte. Daran änderte auch der Coup der OPEC-Staaten auf die Dauer nichts Wesentliches.

Verfestigung entwicklungshemmender Strukturen

Entsprechend dem Credo der Nachkriegszeit propagierte auch die Entwicklungshilfe als Ziel der Entwicklung die Übernahme westlicher Verhaltens-, Produktions- und Konsummuster und empfahl ständiges Wachstum, das am Bruttonational-produkt gemessen wurde und von oben nach unten durchsickern sollte; sie trieb die Industrialisierung und die Investitionen in großen Infrastrukturprojekten voran - ein Weg mit vielen „Pannen“ -, sie machte die Vernachlässigung des ländlichen Sektors perfekt.

Ganz abgesehen von der starken Verflechtung der Hilfe mit dem Eigeninteresse der Geberländer, die im Bereich der Müitär- und der Kapitalhilfe besonders deutlich ist, waren und sind der Wirksamkeit dieser Hilfe auch durch ihr außerordentlich niedriges Niveau Grenzen gesetzt: Die Entwicklungshilfe der OECD-Länder beträgt nicht einmal die Hälfte des von der UNO empfohlenen Beitragsziels von 0,7 Prozent des Bruttonationalprodukts.

Nicht vergessen werden sollen in dieser kurzen Skizze die wertvollen Dienste, die vor allem private Kreise im Rahmen der personellen Hilfe leisteten; trotzdem kann auch Entwicklungshilfe mit den besten Absichten nicht voll zur Wirkung kommen, wenn die Strukturen, innerhalb derer sie arbeitet, die breite Masse der Bevölkerung von der Befriedigung ihrf*r Grundbedürfnisse ausschließen.

Die „Neue Internationale Wirtschaftsordnung“ (NIWO), auf deren Durchsetzung die Entwicklungsländer seit 1974 drängen, ist ein Beweis dafür, daß zwei Drittel der Menschheit die von ihrem Standpunkt aus ungerechte Macht- und Güterverteilung nicht länger hinnehmen wollen. Die NIWO, als erster Schritt zur Veränderung sicher von großer Wichtigkeit, sagt nichts aus über interne Veränderungen und nichts über eine Neufassung des Entwicklungsbegriffs.

Gerade darum geht es aber, auch in neueren entwicklungskritischen Studien von Wissenschaftlern in Nord und Süd, deren Kernpunkte die Wachstumsideologie und die Abhängigkeit vom Weltmarkt sind. „Wir wollen uns mehr um den Inhalt des Bruttonationalproduktes kümmern als um seine Wachstumsrate“, sagte Mahbub ul Haq, ein bekannter pakistanischer Wirtschaftswissenschaftler. Für eine „andersartige Entwicklung“ plädieren die Autoren des wegweisenden Dag-Hammarskjöld-Berichtes, für eine wenigstens teilweise Abkoppelung der Entwicklungsländer aus den weltwirtschaftlichen Beziehungen treten viele kritische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, vor allem aus dem deutschen Sprachraum, ein.

So umstritten und schwer durchführbar vor allem die letztgenannte Forderung ist, so klar ist doch, daß es wie bisher nicht weitergehen darf: Die Befriedigung der Grundbedürfnisse der armen Bevölkerung und die Abkehr vom westlichen Vorbild sind dabei als Wegweiser auf dem bevorstehenden Weg des Umdenkens anzusehen.

Welchen Grundsätzen die Alternativen in der Entwicklungspolitik zu folgen hätten, wird die FURCHE in zwangloser Folge in mehreren künftigen Beiträgen aufzuzeigen versuchen.

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