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Die Attraktion des (ewig) Neuen

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Am 20. und 21. Juni werden 41,8 Millionen Italiener und Italienerinnen an die Urnen gerufen werden, um ihre Parlamentsvertreter zu wählen. Viel spricht dafür, daß diese Auseinandersetzung in einen Zweikampf zwischen Christdemokraten und Kommunisten ausarten und die KPI an Stelle der Demo-crazia Cristiana als stärkste Partei aus den baldigen Wahlen hervorgehen wird. Gelingt es der KPI, im Verein mit den ihr zuneigenden Linkssozialisten, mehr als die Hälfte der Stimmen, vielleicht sogar 55 Prozent, zu gewinnen, so wäre eine Volksfront-Regierung unumgänglich, meinen viele Italiener und sehen die Stunde eines grundlegenden Regime-Wechsels nahen. Andere Beobachter verweisen auf die bisherige Stabilität des italienischen Elektorates, das selbst unter veränderten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen seine Vorlieben nur wenig, jedenfalls nie sprungartig geändert hat und deshalb der KPI höchstens nach Jahren, über mehrere Urnengänge die Chance zu einer „friedlichen“ Machtergreifung durch den Wahlzettel einräumen könnte.

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Am 20. und 21. Juni werden 41,8 Millionen Italiener und Italienerinnen an die Urnen gerufen werden, um ihre Parlamentsvertreter zu wählen. Viel spricht dafür, daß diese Auseinandersetzung in einen Zweikampf zwischen Christdemokraten und Kommunisten ausarten und die KPI an Stelle der Demo-crazia Cristiana als stärkste Partei aus den baldigen Wahlen hervorgehen wird. Gelingt es der KPI, im Verein mit den ihr zuneigenden Linkssozialisten, mehr als die Hälfte der Stimmen, vielleicht sogar 55 Prozent, zu gewinnen, so wäre eine Volksfront-Regierung unumgänglich, meinen viele Italiener und sehen die Stunde eines grundlegenden Regime-Wechsels nahen. Andere Beobachter verweisen auf die bisherige Stabilität des italienischen Elektorates, das selbst unter veränderten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen seine Vorlieben nur wenig, jedenfalls nie sprungartig geändert hat und deshalb der KPI höchstens nach Jahren, über mehrere Urnengänge die Chance zu einer „friedlichen“ Machtergreifung durch den Wahlzettel einräumen könnte.

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Weithin kann man in Italien zu hören bekommen: „Wir hatten den Liberalismus, wir hatten den Faschismus, wir hatten die Demokratie der Democrazia Cristiana. Alle diese Systeme waren unbefriedigend, haben viel versprochen und wenig gehalten. Versuchen wir es also mit dem Kommunismus.“ Was für den Angehörigen der Oberschicht blanker Unsinn ist, weil ein KPI-Regime seiner Ansicht nach nicht nur der Wirtschaft schadet, sondern auch die individuelle Freiheit beschneidet, hat in der Optik der Benachteiligten, vor allem der unqualifizierten Arbeiter, Handlanger, kleinen Bauern, ja sogar mancher Rentner und nicht weniger Künstler viel Verlockendes. Wer wenig oder nichts zu verlieren hat, dem kommt jede Veränderung der Zustände gelegen — in Italien und anderswo.

Nördlich von Bologna ist der Kommunismus nicht einfach eine Attraktion, wie der Faschismus in den zwanziger Jahren, sondern die Attraktion par excellence, die schon lange zum Zuge hätte kommen sollen. Seit der Jahrhundertwende gibt es in der Emilia und der Romagna zwischen der Adria und den Apen-ninen sozialistische Gemeindeverwaltungen. Immer mehr Stadt-, Provinz- und schließlich — seit 1970 — auch Regionalverwaltungen Mittel-und Norditaliens sind rötlich oder gar dunkelrot geworden. Kein Wunder, daß hier Partisanenverbände wie Pilze nach einem langen Regen aus dem Boden schössen, als Mussolinis faschistisches Regime mit dem Putsch des Königs, dem Waffenstillstand zwischen Vittorio Emanuele und Eisenhower vom 8. September 1943 ins Wanken kam. Zwanzig Monate lang haben hier Freiheitskämpfer unter kommunistischer, sozialistischer und christdemokratischer Regie die Schwarzhemden und deutschen Besatzungstruppen von den Bergen her und aus dem Hinterhalt angegriffen und ihnen schwere Verluste beigebracht.

Aber auch viele zehntausende Partisanen sind in diesem unerbittlichen Kampf mit einem viel besser ausgerüsteten und ernährten Feind umgekommen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hofften viele Italiener, daß mit Hilfe der am Partisanenkrieg beteiligten Parteien — KPI, Linkssozialisten, Ak-tionisten, Christdemokraten und Liberale — in Italien endlich all die sozialen Reformen durchgeführt werden würden, die bisher immer auf die lange Bank geschoben worden waren. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht. In den Parlamentswahlen vom 18. April 1948 hat die Democrazia Cristiana mit 48,5 Prozent der Stimmen zwar die Mehrheit der Parlamentssitze errungen. Um sich diesen beträchtlichen Anhang zu sichern, war sie jedoch gezwungen, eine eher reaktionäre Politik zu betreiben. Jedes Mal, wenn sich nach de Gasperis Empfehlung die Democrazia Cristiana als eine „Partei der Mitte, die nach links marschiert“ begriff, wandten sich Teile ihrer angestammten Wählermassen ab, um ihre Stimmen den Liberalen, den Sozialdemokraten oder den Neofaschi-sten zu geben.

Unter solchen Vorzeichen fühlten sich die meisten am Widerstandskampf einstmals beteiligten Kräfte und der Großteil der Intelligenzia vom DC-Regime betrogen und warteten auf den Augenblick einer Revanche. Er bot sich ihnen im Kampf um die Einführung der Ehescheidung und ihrer Verteidigung in der Referendumsabstimmung vom 12. Mai 1974. Seither glauben alle „progressiven“ Kräfte, ihre Stunde sei endlich gekommen.

Im Gegensatz zu den meisten andern italienischen Parteien hat die KPI ein Kader mit „sauberer Vergangenheit“. Die älteren Kommunistenführer lebten während der faschistischen Ära im Exil oder sie befanden sich in irgendeinem italienischen Gefängnis. Palmiro Togliatti leitete die Internationale in Moskau, Luigi Longo befehligte italienische Truppeneinheiten im Spanischen Bürgerkrieg. Enrico Berlinguer, der dritte KPI-Generalsekretär der Nachkriegszeit, verbrachte die letzten Monate der faschistischen Herrschaft im Gefängnis von Sassari.

Im befreiten Italien achteten die Heimkehrenden und Entlassenen dann darauf, daß keine ehemaligen Faschisten und Mitläufer des gestürzten Regimes in die KPI aufgenommen wurden. Mitgliedskarten wurden nicht leichtfertig ausgegeben. Sie sollten „Auszeichnungen“ für „gutes Verhalten“ während des Faschismus sein. Unter „gutem Verhalten“ war direkte oder wenigstens indirekte Beteiligung an der Restistenza, dem Widerstandskampf zwischen 1943 und 1945, zu verstehen. Diese KPI-Mitglieder der ersten Stunde sind — wie Giorgio Amendola — Söhne von Opfern der faschistischen Kommunistenjagd oder sie haben einen Bruder oder Onkel, der im Spanischen Bürgerkrieg auf der linken Seite gestanden ist.

Später freilich stießen auch Elemente zur KPI, die keine solche „Blutprobe“ vor Zeiten bestanden hatten, aber wenigstens frei von „Jugendsünden“, wie der Mitgliedschaft bei einer andern Partei, sind. Viele italienische Kommunisten unter vierzig Jahren sind aus der straff organisierten Jugendbewegung hervorgegangen, die eine Art von Staat im Staate der KPI darstellt. Wer sich in der kommunistischen Jugendbewegung bewährt, hat Chance, in der KPI Karriere zu machen. Vor dreißig Jahren war der heute 55jährige Berlinguer Führer dieser Bewegung.

Die Unterschiede zur Democrazia Cristiana sind eklatant. Der junge Fanfani hat noch Lobeshymnen auf den Faschismus verfaßt, von dem er sich dann, als reifer Mann, lossagte. Als die Democrazia Cristiana in den fünfziger Jahren völlig zu vergessen schien, daß sie aus Don Sturzos Volksbewegung des Partito Popolare hervorgegangen war, machte sich Fanfani zum Wortführer des Centro-sinistro-Regierungskurses, einer Linksöffnung also bis zu den Linkssozialisten, unter Ausschluß der Kommunisten. Nach dem Versagen dieses Regierungssystems steuerte er 1972, über seinen Gefolgsmann Forlani, eine Rückkehr zum Zentrismus an, zu einem Regierungskurs mit den Liberalen auf der Rechten, Sozialdemokraten und Republikanern auf der linken Seite. Als sich auch diese Formel verbraucht hatte, versuchte Fanfani wieder die Zusammenarbeit mit den Linkssozialisten.

Solche Zickzackkurse sind in der Democrazia Cristiana gang und gäbe. Was während 30 Jahren in dieser Partei vor allem zählte, war die geschickte Handhabung der Macht. Kein Wunder, daß dies mit der Zeit zu den übelsten Auswüchsen führte. Um sich eine große Hausmacht zu schaffen, zögerten die Exponenten der DC nicht, mit öffentlichen Geldern Mitgliedskarten ä 1000 Lire zu kaufen.

Alles in allem dürften in Italien die Kommunisten das sauberste, die Christdemokraten neben den Sozialdemokraten das politisch am wenigsten integere Führungskorps haben. Nach den Kommunisten dürften die Neofaschisten die saubersten Kader besitzen. Nicht von ungefähr. Im Movimento Sociale Italiano fanden sich alle jene Italiener zusammen, die zu ihrer faschistischen Vergangenheit standen und nicht bereit waren, ihren Prinzipien abzuschwören. Bezeichnenderweise tritt Almi-rante seit Jahren für die Errichtung eines Präsidialstaates ein, der — wie in Frankreich — dem Reigen fortgesetzter und nutzloser Regierungskrisen ein Ende setzen soll. Unter den Mitläufern der nationalen Rechtspartei befinden sich viele Heimwehkranke der Vergangenheit, Nostalgi-ker der glanzvollen Duce-Herrschaft, die — wie sie sagen — „allen Fehlern zum Trotz immer noch besser war als das jetzige Chaos“.

Daß die politische Integrität des kommunistischen Führungskorps in engstem Zusammenhang mit seiner persönlichen Integrität steht, wird niemanden überraschen, der weiß, wie sehr besonders in Italien die Politik in ihrer Gesamtheit persönlichen Charakter trägt. Jahrzehntelang war Togliatti nicht einfach nur Generalsekretär der KPI, sondern auch charismatischer Führer des Weltkommunismus, eine Erlöserfigur für benachteiligte Massen. Mag er auch immer „der große Einsame“ unter seinen Parteigenossen gewesen sein — er vermochte doch alle Kommunisten und viele Nichtkommu-nisten in seinen Bann zu ziehen. Kaum ein Abgeordneter ließ es sich entgehen, wenn Togliatti se' rhetorisches Feuerwerk im Montecitorio entfaltete oder bei einer Wählerversammlung das Paradies auf Erden im sowjetischen Führerstaat schilderte.

Der jetzige Generalsekretär der KPI verfügt nicht über das Charisma seines Vorgängers. Doch das, was er nicht selbst bieten kann, tragen ihm seine Genossen zu. Und so ahmen denn viele kleine „Berlin-guers“ die Sprechweise und den Tonfall seines sardischen Dialektes nach.

Nicht von ungefähr übt die KPI gerade heute eine ungeheure Faszination auf die italienische Jugend aus. Ihr setzt die Wirtschaftskrise mehr als jeder andern Altersgruppe zu. Häufig treten die Jugendlichen erst über kommunistische Parteiversammlungen in Kontakt mit der großen Welt. Hier wird nicht von oben nach unten doziert, sondern von Mann zu Mann, genauer: von compagno (Genosse) zu compagno geredet über notwendige und mögliche Veränderungen der Gesellschaft nach den von Marx bis Engels, Gramsci, Togliatti und Berlinguer entwickelten Thesen. Bei italienischen Kommunisten aller Altersstufen herrscht ein Zusammengehörigkeitsgefühl, wie es sonst nur religiösen Gruppen eigen ist. Der Angehörige einer kommunistischen Jugendgruppe sagt sich also, daß die Sichel- und Hammerpartei, die einen solchen Zusammenhalt zu entwickeln vermag, unter keinen Umständen irren könne. Daß der Weg dazu eines monolithischen Aufbaus und einer erheblichen internen Disziplin bedarf, wird der KPI von selten der Jugendlichen gewöhnlich nicht vorgeworfen, ja nicht einmal als notwendiges Übel angelastet.

Wie Kulturpsycholo0-u nachzuweisen versuchten, haben Katholizismus und Kommunk .ius manches miteinander gemeinsam. Beide sind Heilslehren. Daß die katholische Religion die Vollendung erst für das Leben nach dem Tod, die kommunistische Doktrin jedoch bereits für die Zeit nach der Verbreitung des Sozialismus über die ganze Welt in Aussicht stellt, wird in Italien, wo das Denken gleichsam rund läuft, weniger als Gegensatz denn als komplementärer Sachverhalt begriffen. Mancher linksstehende Geistliche fand an dieser Neuaufteilung der Welt Gefallen, weil sie der Religion den Sonnenplatz am Sonntag überließ. Im Alltag eines Dorfes oder Stadtviertels lebten der katholische Geistliche und der KPI-Boß schon lange vor Johannes XXIII. friedlich nebeneinander. „Don Camillo e Peppone“, Guareschis Erfolgsroman, beschrieb nicht ein fiktives, sondern ein reales Phänomen.

Entsprechend solchen Vorbildern sind die Bürger Italiens, dieses Landes der vielen Advokaten und wenigen Richter, mitunter nicht entweder katholisch oder kommunistisch, sondern katholisch und kommunistisch zugleich. Die Frauen der „roten Zone“ Mittelitaliens gehen am Sonntag in die Kirche und geben dennoch der Sichel- und Hammerpartei ihre Stimme. Die Marchesa Berlinguer, Gattin des italienischen KPI-Chefs, ist praktizierende Katholikin und ihre drei Mädchen gingen, wie es sich für Comtessen gehört, in die Klosterschule. Berlinguer hatte seine Gründe, wenn er nicht viel dagegen einzuwenden wußte. Einmal gibt es seiner Politik des „historischen Kompromisses“ eine Art von familienmäßiger Rückendeckung und außerdem sind Klosterschwestern die letzten, die dem Streikaufruf der Gewerkschaften Folge leisten würden. So lernten Berlinguers Mädchen mehr als andere italienische Kinder.

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