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Die Aufmerksamkeit gegenüber dem Leben

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Vor 50 Jahren starb die französische Theoretikerin Simone Weil im Spital von Ashford/Kent an Herzversagen infolge von Unterernährung und Tuberkulose. Lange Zeit war sie im deutschen Sprachraum nur als religiöse Denkerin bekannt; ihre politischen Schriften wurden erst in den siebziger Jahren zugänglich. Ein vollständiges Bild ihres Denkens zeigen jetzt die Cahiers, ihre Notizbücher.

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Vor 50 Jahren starb die französische Theoretikerin Simone Weil im Spital von Ashford/Kent an Herzversagen infolge von Unterernährung und Tuberkulose. Lange Zeit war sie im deutschen Sprachraum nur als religiöse Denkerin bekannt; ihre politischen Schriften wurden erst in den siebziger Jahren zugänglich. Ein vollständiges Bild ihres Denkens zeigen jetzt die Cahiers, ihre Notizbücher.

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Geboren wurde Simone Weil 1909 in einer assimilierten jüdischen Familie in Paris. Am berühmten Lycee Henri IV war sie Schülerin des Philosophen Alain, und die Ecole Normale Superieure, die staatliche Lehrerbildungsanstalt, schloß sie mit einer Promotion über Wissenschaft und Erkenntnis bei Descartes ab.

In die Zeit der Ausbildung, in der sie unter anderen auch Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre kennenlernte, fiel der Beginn ihres politischen Engagements: antimilitaristische und pazifistische Aktionen und unentgeltlicher Unterricht an einem Arbeiterbildungszentrum. In den Kleinstädten, in denen sie unterrichtete J Le Puy, Auxerre und Roanne -nahm sie Kontakt mit anarchosyndikalistischen Gewerkschaftern auf, begleitete Arbeitslose zum Bürgermeister, nahm an Protestmärschen und Gewerkschaftskongressen teil und trug beim Aufmarsch der Bergarbeiter die rote Fahne. Eltern waren von provokanten Äußerungen schockiert, die Schulbehörde drohte mit Versetzung, denn Simone Weil las anstatt der Lehrbücher mit den Schülern Descartes, Kant oder Plato im Original und animierte sie zu eigenständigen Aufsätzen, aber die staatliche Abschlußprüfung schafften sie damit nicht.

Drei einschneidende Erfahrungen prägten ihr politisches Denken: der Deutschland-Aufenthalt im August 1932, die eigenen Erfahrungen als Fabriksarbeiterin und die Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg 1936. In Deutschland analysierte sie das Scheitern der Arbeiterbewegung angesichts des Faschismus und wurde infolge-desssen zu einer sehr grundsätzlichen Kritikerin des Marxismus. Mit ihrer Analyse der Technisierung und Büro-kratisierung von Staat, Wirtschaft und Arbeiterorganisation war Simone Weil ihrer Zeit weit voraus; darin sah Albert Camus, der später entscheidend für die Veröffentlichung ihrer Schriften eintrat, ihren wichtigsten Beitrag. Ihre Erfahrungen als Fabriksarbeiterin - unter anderem als Fräserin bei Renault - schlagen sich im „Fabrikstagebuch” nieder, einem detailreichen und eindringlichen Protokoll des physischen und psychischen Zu-standes einer Akkordarbeiterin. In Spanien bekam sie bestürzende Einblicke in die Grausamkeiten, die für eine gerechte Sache verübt wurden, wie sie später in einem Brief an George Bemanos formulierte.

Plato als Bezugspunkt

1938-40 machte Simone Weil mystische Erfahrungen, über die sie sich nur in Briefen an den Dominikanerpater Jean-Marie Perrin und den bettlägerigen Schriftsteller Joe Bousquet äußerte. (Sie sind in der Textsammlung „Zeugnis für das Gute” enthalten.) Sie fand zu einem Universalismus, der sie Bibel, griechische Mythen, die Bhagavadgita und entlegene Beispiele der Religionsgeschichte vergleichen ließ. Zentraler Bezugspunkt war ihre Deutung Piatos als „Vater der Mystik”.

Wichtige Schriften entstanden in

Marseille und New York, wohin sie mit ihren Eltern fuhr; sie wollte aber als Partisanin nach Frankreich zurück. Durch Vermittlung des späteren französischen Außenministers Maurice Schuman kam sie nach London, um für die französische Exilregierung zu arbeiten. So entstand,.Die Einwurzelung” - ein umfangreiches Manifest für ein zukünftiges befreites Frankreich und eine Synthese von Simone Weils Hauptgedanken.

Gegen Ende des Lebens werden die Arbeitstagebücher Simone Weils immer dichter, weil sie ihnen anvertraute, was auszuformulieren ihr nicht mehr möglich war. 1947 hat der katholische Philosoph Gustave Thibon aus diesen Heften eine Auswahl zusammengestellt, die sie berühmt machte und 1952 unter dem Titel „Schwerkraft und Gnade” auf Deutsch erschien. Es blieb bis heute ihr populärstes Buch, vermittelt aber den völlig unzutreffenden Eindruck einer prägnant-aphorismusartigen Schreibweise und blendet die kirchen- und religionskritischen Argumente aus. 1991 ist der erste Band dieser Cahiers auf Deutsch erschienen; die Übersetzer wurden dafür mit dem Celan-Preis ausgezeichnet. Der zweite Band folgt im September.

Zeit ihres Lebens war Simone Weil auch literarisch tätig. Sie schrieb Gedichte von klassischer Formenstten-ge, die wie aus einem anderen Jahrhundert wirken und Zentralbegriffe ihres Denkens in Bildern umkreisen. In der Oktobernummer der renommierten Literaturzeitschrift ,-,Akzen-te” werden sie erstmals in deutscher Übersetzung zu lesen sein. Ihr Drama „Das gerettete Venedig” das dem Kollektiv einen positiven Gemeinschaftsbegriff gegenüberstellt, ist bislang nur auf Französisch zugänglich.

Die Widersprüche im Werk Simone Weils sind nicht zu glätten, und manche Züge ihres Wesens bleiben befremdlich. Alles war für sie Gegenstand ihres unermüdlichen Interesses, nur sich selbst hat sie nicht thematisiert, vor allem nicht als Jüdin und nicht als Frau. Nicht immer hat sie Antworten gegeben, die standhalten und die fünf Jahrzehnte seit ihrem Tod überdauert haben. Aber wer sich ihren Fragen und Provokationen aussetzt, wird nicht so schnell davon loskommen. Es gibt kaum eine andere Gestalt unseres Jahrhunderts, mit der sich undogmatische Linke genauso auseinandergesetzt haben wie konservative Katholiken. „Aufmerksamkeit” war ein Grundbegriff ihrer Philosophie und ein Grundzug ihres Lebens.

CAHIERS. Aufzeichnungen. Von Simone Weil. Hrsg. von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München/Wien. Erster Band 1991. 390 Seiten, öS 499,-. Zweiter Band 1993, 358 Seiten, (erscheint im September).

ZEUGNIS FÜR DAS GUTE. Traktate, Briefe, Aufzeichungen. Von Simone Weil. Hrsg. von Friedhelm Kemp. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1990. 258 Seiten, öS 116,-.

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