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Die Baltenstaaten werden unabhängig

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Estland, Lettland und Litauen sind dabei, ihre Unabhängigkeit zu erhalten. Die internationale Anerkennung ist in vollem Gang, die Aufnahme in die Vereinten Nationen steht bevor.

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Estland, Lettland und Litauen sind dabei, ihre Unabhängigkeit zu erhalten. Die internationale Anerkennung ist in vollem Gang, die Aufnahme in die Vereinten Nationen steht bevor.

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Estland - Lettland - Litauen, ein Dreiklang, der fast immer gemeinsam anklingt. Gemeinsam ist den drei Ostseerepubliken jedoch vor allem das Schicksal der letzten 74 Jahre. Viele andere Aspekte zeigen die Unterschiede.

Letten und Litauer zählen ethnisch, gemeinsam mit den längst untergegangenen Altpreußen, zur baltischen Sprachfamilie, die sie von den slawischen Nachbarn unterscheidet, ohne ihnen soviel gemeinsame Verständigungsmöglichkeit zu geben wie etwa den skandinavischen Völkern untereinander. Die Esten dagegen sind den Finnen, Kareliern, Ingermanländern verwandt, der finnisch-ugrischen Sprachgruppe zugehörig.

Anders verlaufen die Trennlinien der geschichtlichen Entwicklung. Letten und Esten wurden im hohen Mittelalter von der ostdeutschen Missions- und Kolonisationswelle überrollt. Der Deutsche Ritterorden baute seine Burgen, die Hanse gründete ihre Städte, und die deutsch-baltische Oberschicht blieb bis zu ihrer Aussiedlung im Zweiten Weltkrieg tonangebend.

In Litauen dagegen gab es schon zur selben Zeit ein starkes einheimisches Fürstentum, das zum Gegenspieler des Deutschen Ordens wurde und 1386 in der Krakauer Hochzeit Jagiellos mit der polnischen Prinzessin Jadwiga in einem der größten Territorialstaaten der damaligen Welt aufging: Das polnisch-litauische Reich reichte von der Ostsee fast bis zum Schwarzen Meer.

An die Stelle des livländischen Ordensstaates trat im 16. Jahrhundert das schwedische Ostseeimperium. Erst 1721 im Frieden von Nystad fielen Estland und Livland als autonome Provinzen an das Zarenreich, das 1795 auch Kurland seinen Ostseeprovinzen beifügte. Mit dem Zerfall Polens war auch Litauen der russischen Herrschaft unterstellt worden.

Die verschiedene historische Entwicklung prägte auch die kulturellen Unterschiede: Auf dem Gebiet des zusammengebrochenen Ordensstaates im Norden setzte sich rasch die

Drei Zankäpfel am Meer

Reformation durch; im polnisch dominierten Litauen blieb die Kirche romtreu. Der deutschbaltischen Oberschicht in Livland, Kurland und Estland stand im Süden eine polnische Oberschicht gegenüber.

Wahl sistiert

Die nationalen und sozialen Aufbruchsbewegungen des 19. Jahrhunderts fanden auch im Baltikum ein Echo. Deutsch-baltische Grundbesitzer hoben schon 1816 die Leibeigenschaft der Bauern auf. Literarische Gesellschaften pflegten das eben erst bewußt gewordene Volkstum. In die russische Reichsduma zogen auch Vertreter der Baltenprovinzen ein.

Die Februarrevolution 1917 in Rußland gab auch den Eigenständigkeitsbestrebungen im Baltikum neuen Auftrieb. Landesversammlungen und Vertretungskörper begnügten sich jedoch mit den Forderungen nach einer ethnischen Neugliederung der Landesteile und nach Autonomie in einer gesamtrussischen Republik.

Auch im Baltikum hatten die revolutionären Räte eine starke Position -und sie ergriffen auch hier die Macht, als Lenin diese in Petersburg an sich riß. In Estland genehmigten die Bol-

(FAZ)

schewiken die Durchführung von Wahlen zur konstituierenden Versammlung, in der Meinung, dort die Mehrheit zu erhalten. Als ihr Stimmenanteil dann nur mehr 25 Prozent betrug, sistierten sie die Wahl. Der Terror gegen die „Klassenfeinde" setzte sofort ein.

Im Gegensatz zu den Räten tendierten die deutschbaltische Oberschicht wie das Bürgertum zur Unabhängigkeit. Die deutschen Truppen waren im Herbst 1917 nach Riga, im Frühjahr 1918 bis nach Narwa vorgestoßen. Im Frieden von Brest-Litowsk mußte die Sowjetregierung die Loslösung anerkennen.

Zwanzig Jahre unabhängig

Der Zusammenbruch Deutschlands beraubte die baltischen Länder ihres militärischen Schutzes. Die Sowjetregierung annullierte am 13. November 1918 den Frieden von Brest und versprach „den arbeitenden Massefi der okkupierten Gebiete die Hilfe der russischen Arbeiter und Bauern".

Die im Lauf des Jahres in allen drei Republiken proklamierte Unabhängigkeit wurde von den Siegermächten nur zögernd anerkannt. Als aber am 22. November der Angriff der

Bolschewiken auf Narwa einsetzte, als der von ihnen ausgeübte Terror auch im Westen ruchbar wurde, akzeptierte die Entente, daß die noch im Land stehenden deutschen Einheiten, Freiwilligenverbände oder „Freikorps", gegen die Kommunisten vorgingen.

Zwei Jahre, bis Ende 1919, dauerte der Befreiungskampf der jungen Republiken, in dem nationale Einheiten, deutsche Freikorps und antikommunistische russische Generäle gegen die Bolschewiken - und dann wieder gegeneinander - kämpften, mit Kriegszielen, die nicht in Einklang gebracht werden konnten. Erst die Friedensschlüsse von Dorpat, Riga und Moskau brachten 1920 den Frieden und die Anerkennung der Unabhängigkeit durch die Sowjets.

Demokratie abgesagt

Nur knappe 20 Jahre sollte diese Unabhängigkeit dauern. Während Lettland und Estland schon früh ihre Staatsgebiete nach ethnischen Prinzipien neu abgesteckt hatten, war Litauen gefangen in den Konflikten mit dem Deutschen Reich wegen des okkupierten Memelgebietes und mit Polen wegen des von diesem besetzten Wilnagebietes.

Starke fremdsprachige Minderheiten, die ihre Rechte forderten, sorgten für Unruhe. Agrarreformen zerschlugen den Großgrundbesitz und entmachteten damit vor allem den deutschbaltischen Adel.

In einer Zeit, da ringsum in Europa autoritäre Systeme und Diktaturen vorgaben, die Schwächen ungewohnter Demokratien beseitigen zu können, griffen auch die Präsidenten von Estland, Konstantin Päts, und Lettland, Karlis Ulmanis, zur Methode, die Verfassungen auszusetzen, bürgerliche Freiheiten einzuschränken, Parteien aufzulösen. In Litauen er-' richtete Antanas Smetona ein Präsidialregime mit einer einzigen Staatspartei.

Das Erstarken des nationalsozialistischen Deutschlands, sein Pakt mit Polen, sowie die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund mußten im Baltikum als latente Gefahr aufgefaßt werden. Am 12. September 1934 schlössen die drei Staaten einen Konsultativvertrag, der als „Baltische Entente" in die Geschichte einging. Mehr als einander „konsultieren" konnten jedoch die regelmäßig tagenden Außenminister auch nicht.

Hitlers Osteuropa-Aspirationen, wie sie in „Mein Kampf' skizziert waren, mußten im Baltikum deutsche Absichten vermuten lassen. Umso mehr überraschte es, als im August 1939 im Hitler-Stalin-Pakt - wenn auch noch unveröffentlicht, aber bald in der Wirkung erkennbar - den Sowjets freie Hand im Baltikum zugesichert wurde. Es dauerte kein Jahr mehr, bis die drei Republiken „auf Wunsch der arbeitenden Völker" als Sowjetrepubliken der Union eingegliedert wurden.

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