6954963-1984_26_06.jpg
Digital In Arbeit

Die Begleichung alter Rechnungen

19451960198020002020

Die Hintergründe des blutigen Anschlages auf dem Parkplatz der türkischen Botschaft in Wien weisen auf einen zweiten, bisher zu Unrecht vergessenen Nahostkonflikt hin: auf die Tragödie von Millionen massakrierten oder heimatvertriebenen Armeniern in der Türkei.

19451960198020002020

Die Hintergründe des blutigen Anschlages auf dem Parkplatz der türkischen Botschaft in Wien weisen auf einen zweiten, bisher zu Unrecht vergessenen Nahostkonflikt hin: auf die Tragödie von Millionen massakrierten oder heimatvertriebenen Armeniern in der Türkei.

Werbung
Werbung
Werbung

Zum Unterschied zum Los der Palästinenser ist ihr Schicksal bei uns viel zu wenig registriert worden. Für die „ASALA" die „Geheime Armee zur Befreiung Armeniens", nur ein Grund mehr, es jetzt mit der Methode von Arafat und Habasch zu versuchen.

Dabei hatten sich die Armenier während der letzten 100 Jahre nicht in der Rolle der streitbaren Araber aus Palästina, sondern in jener der verfolgten Diaspora-Juden befunden. Das ursprünglich kriegerische Bergvolk zwischen Ararat und dem Van-See mit seinen alten Reichen der Ar-sakiden, Bagratiden und Rubeni-den war in Jahrhunderten osmanischer Herrschaft zu einer Nation friedlicher Bauern, Handwerker, Händler und Intellektueller geworden.

Die türkische Tansimat-Auf-klärung des 19. Jahrhunderts und die sekuläre jungtürkische Revolution von 1908 versprachen den Armeniern zweimal die volle Gleichberechtigung. Beide Male hat ihre Emanzipation aber in grausamste Unterdrückung bis zur Ausrottung umgeschlagen. Von den Millionen Armeniern der Türkei ist heute nur noch eine kleine Schar um die 100.000 übriggeblieben.

Für diesen Völkermord der Ha-midie-Kavalleristen im späten 19. Jahrhundert und des Kriegsminister Enver Pascha während des Ersten Weltkriegs nahmen seit einigen Jahren auf einmal armenische Terroristen an türkischen Diplomaten, Tourismus- und Fluglinienvertretern blutige Rache.

Sie konzentrierten sich zunächst auf westliche Hauptstädte wie Rom oder Paris. Neuerdings operieren sie jedoch mit Vorliebe im neutralen Niemandsland zwischen Ost und West, wie schon in der Schweiz und zuletzt in Wien.

Die westlichen Sicherheitsdienste greifen nämlich besonders scharf gerade gegen die „ASALA" durch, seit nach dem Fall der PLO- und internationalen Terrorhauptstadt West-Beirut im Sommer 1982 zahlreiche und schlüssige Unterlagen über einen weltweiten Terroristenverbund mit den Armeniern in der Schlüsselrolle zwischen östlicher Steuerungszentrale und den Vollzugsorganen im Westen und in der Dritten Welt aufgetaucht sind.

So koordinierte die „ASALA" bis vor kurzem die gesamte französische Terrorszene und hat nach Erkenntnissen der türkischen Abwehr anstelle von Beirut eine neue Drehscheibe der Gewalt auf Zypern eingerichtet.

Eine weitere Querverbindung im Kampf gegen die nationalistische und zentralistische Türkei von heute führt vom armenischen Untergrund zum bewaffneten Ringen der Kurden um ein wenigstens autonomes Vaterland im südwestlichen Anatolien.

Es ist bis heute eine der am weitesten verbreiteten und immer wieder aufgetischten Unwahrheiten über die Kurden geblieben, daß diese die Hauptverantwortung für die Armeniergemetzel in der Türkei unter dem Sultan Abd AI Hamid II. und dann während des Ersten Weltkriegs unter den Jungtürken getragen hätten. So hat es 1894-95 blutige Zusammenstöße zwischen Kurden und Armeniern gegeben, für die aber in erster Linie die osmanische Führung verantwortlich war. Und bei den Armenier-Morden von 1916 waren es kurdische Bauern, die den von der Massakrierung Bedrohten Unterschlupf gewährten.

Außerdem ist es nahezu völlig unbekannt geblieben, daß bei dem zwischen 1915 und 1918 in der Osttürkei am armenischen Volk verübten Genozid auch etwa 700.000 Kurden getötet worden sind.

In dem am 10. August 1920 zwischen den Alliierten und Sultan Muhammed VI. in Istanbul unterzeichneten Frieden von Severs war ebenso ein freies Armenien wie laut Artikel 62-64 ein zunächst selbstverwaltetes und später völlig unabhängiges Kurdistan vorgesehen.

Der türkische Abwehrkampf gegen diesen Diktatfrieden und die von ihm begünstigten Nationalitäten dauert seit Kemal Atatürk bis zum heutigen Tag an.

Hingegen wurde erst 1964 durch Lazarev aus Moskau der Zusammenschluß von Armeniern und Kurden gegen Ankara angeregt.

Die linksrevolutionäre Kurdenpartei „Kajyk" hat diese Taktik in ihre 1972 auf Deutsch in München veröffentlichte Programmschrift .Kajyknama' aufgenommen: „Die Kajyk-Partei unterstützt die Freiheitsbewegung der Armenier, Assyrer, Biafraner, Basken, Ba-thanen, Palästinenser, Neger, Vietnamesen, Griechen, Südsudanesen, Bengalesen, Irländer, Südtiroler, Indianer, sowie aller anderen Völker."

Ein so weit gespannter Bogen des Freiheitskampfes, aber auch des Terrorismus, erinnert unwillkürlich an Ghaddafi. Tatsächlich gibt es auch im konkreten Fall Hinweise auf ein sowjetisch-libysch-ostdeutsches Dreieckskarussell rund um die Kajyk-Parti-sanen wie um die „Geheime Armenische Befreiungsarmee".

Die in der Kajyk-Resolution angesprochenen „Assyrer" oder „Syrianer" sind erst in den letzten Jahren in eine ähnliche Notsituation wie die Armenier seit über hundert Jahren gedrängt worden. Als ebenso kleine christliche wie völkische Minderheit wurden sie von der panislamischen wie von der alltürkischen Vernichtungswut lange irgendwie übersehen.

Doch heute finden sich schon mehr syrische Christen als in ihrer anatolischen Heimat in den Hintergassen von Istanbul, in der europäischen und überseeischen Emigration. Hier wie dort sind sie die natürlichen Verbündeten der armenischen Untergrundkämpfer.

Doch ihre kirchlichen Führer lehnen jeden Terror ab und sind sich darin mit dem armenischen Patriarchen von Konstantinopel, Kalustian, einig. Er hatte schon 1980 erklärt, daß Christentum und Terrorismus unvereinbar sind. Wäre es berechtigt, nach bald 70 Jahren Rache für die Untaten von Vorvätern an den Enkeln und Urenkeln zu nehmen, so müßte aucn Tag für Tag eine „Geheime Jüdische Armee" nach Deutschland reisen, um Bomben gegen die Generation nach dem Nationalsozialismus zu werfen!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung