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Die Bibel der Studenten

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Bis dato haben vier Generationen Studenten des deutschen Sprachraums sie gekannt, meistens benutzt und manche bis zum Tod treulich bewahrt: Die zum Schutz gegen Bierlachen auf Kneip- und Commerstafeln mit „Biernägeln“ beschlagene Lahrerbibel. Seit der Erstausgabe des Allgemeinen Deutschen Commersbuches im Jahre 1858 sind bis heute 158 Ausgaben, etwa die Hälfte davon vor 1914, erschienen. Der nunmehrige Reprint wird vom Wilhelm Heyne-Verlag als „ein Stück deutscher Geschichte“ vorgestellt. Und diese Wertung trifft wohl in vieler Hinsicht zu.

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Bis dato haben vier Generationen Studenten des deutschen Sprachraums sie gekannt, meistens benutzt und manche bis zum Tod treulich bewahrt: Die zum Schutz gegen Bierlachen auf Kneip- und Commerstafeln mit „Biernägeln“ beschlagene Lahrerbibel. Seit der Erstausgabe des Allgemeinen Deutschen Commersbuches im Jahre 1858 sind bis heute 158 Ausgaben, etwa die Hälfte davon vor 1914, erschienen. Der nunmehrige Reprint wird vom Wilhelm Heyne-Verlag als „ein Stück deutscher Geschichte“ vorgestellt. Und diese Wertung trifft wohl in vieler Hinsicht zu.

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1858, am Vorabend des Krieges, den 1859 Napoleon III. und das Königreich Sardinien gegen die Habsburgermonarchie führten, begann in Europa und insbesondere auch Innerhalb des deutschen Volkes jene Polarisierung in der politischen Willensbildung, die 1918 und 1945 schließlich zum Einsturz Europas geführt hat. In seinem Werk „Deutsche Einheit“ weist Heinrich von Srbik darauf hin, daß sich damals die Bestrebungen nach verfassungsmäßiger Freiheit und selbständigem Nationalleben in einer großen freiheitlich-nationalen Bewegung der Deutschen fanden. In Österreich folgte der militärischen Niederlage der Monarchie von 1859 der Beginn einer liberalen Ära; sie hat das Reich, das Leopold von Ranke unlängst noch eine „katholische, deutsche, militärisch stabile Macht“ voll „unversiegbarer Lebenskräfte“ und auf „Prinzipien gegründet“ genannt hatte, von Grund auf geändert.

1858 stand das entscheidende Ringen im Kräftemessen der Großdeutschen und der Kleindeutschen unmittelbar bevor. Auf seinem Posten als preußischer Gesandter in St. Petersburg bangte Otto von Bismarck, daß sich sein Land ohne Not und Vorteil in den Krieg um die oberitalienischen Besitzungen Österreichs verwickeln lasse; er hätte es lieber gesehen, daß Preußen sich mit den damaligen Mächten des Umsturzes in Europa verbinde; mit Frankreich und Sardinien marschiere; um den Kaiserstaat nicht nur aus Italien, sondern auch aus Deutschland zu vertreiben. Das war die Stunde, in der sich ein tiefer und nie mehr vollends überwundener Bruch in den Beziehungen von Preußens Konservativen zum späteren Kanzler ereignete. Als auch Preußens König seine ganze Autorität der Politk Bismarcks lieh, da konnte es geschehen, daß bei Abendandachten in konservativen Häusern noch einmal die Strophe eines protestantischen Kirchenlieds aufklang:

Verlasse dich auf Fürsten nicht, sie sind wie eine Wiege. Wer heute Hosiannah spricht, ruft morgen: Crucifige.

Den protestantischen Konservativen ist es also in gewisser Hinsicht nicht viel besser ergangen als den katholischen; die katholischen haben bloß aus dem viel früheren Schicksal der protestantischen nichts oder wenig gelernt.

Äußerlich betrachtet ging in einer Stunde wie jener von 1859, in der selbst Marx und Engels dafür hielten, Deutschland müsse den „Rhein gegen Napoleons Eroberungsgelüste“ verteidigen, eine gesamt-deutsche Kriegsbegeisterung, vor allem in Süd- und Mitteldeutschland, durchs Land. Wohl geeignet, den nationalen Willen der Sache Österreichs, nicht aber den Erwägungen preußischer Realpolitik dienlich zu machen.

Der 1859 beginnende Gesinnungswandel wird sichtbar, wenn man in dem 1858 im badensischen Städtchen Lahr von der Steindruckerei Moritz Schauenburg herausgegebenen „Allgemeinen Deutschen Com-mersbuch“ ein wenig blättert. Bald kommt man darauf, daß schon das Adjektiv „allgemein“ nur für eine bestimmte Allgemeinheit richtig am Platze ist: Zum Beispiel fehlen zwei Lieder in der ersten Ausgabe der „Lahrerbibel“, die in den folgenden Jahrzehnten zum Liedgut der Massen gehören sollten:

So das vor allem in Corpskreisen mit mancherlei unterlegten Texten gesungene „Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben“. Text aus 1831, gesungen nach einer 1832 geschaffenen Melodie. Eine 1851 zusätzlich gedichtete Strophe beschwört die Hoffnung, daß sich nach einer gegen Österreich unlängst erlittenen diplomatischen Niederlage Preußens Schwert sich Bahn zum Siege brechen möge. Und in der Tat: Als 1866 die siegreiche preußische Mainaimee in Frankfurt einmarschierte und dem Deutschen Bund von 1815 ein für allemal ein Ende machte, schwenkte das Tete-Regiment eben unter den Klängen dieses Preußenliedes in die Frankfurter Zeil ein.

In der Lahrerbibel ex 1858 wird man auch vergebens ein Lied suchen, dessen Text Max Schneckenburger bereits 1840, angesichts „französischer Begehrlichkeiten“, gedichtet hat und das seit 1854 vertont ist: „Die Wacht am Rhein.“ Ein .Dutzend Jahre nach dem Erscheinen der ersten Lahrerbibel wurde dieses Lied, wie kein anderes, das hinreißende Marschlied der „zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder geeint ins Feld ziehenden Deutschen“; nach 1866 immer mehr das Schutz-und Trutzlied der seit dem „Reinigungskrieg“ vom Reich der Deutschen ausgeschlossenen Deutschnationalen der Habsburgermonarchie; zuletzt das Lied, mit dem der „Geist von 1914“, wie ihn Thomas Mann gepriesen' hat, am stärksten unter den Deutschen Ausdruck fand. Nur ein einziges Mal, als am 15. Juni 1940 die 7. Deutsche Armee den Rhein überschritt und in das Elsaß einmarschierte, hörten die Deutschen im Deutschlandsender die Melodie der „Wacht am Rhein“. Die Intendanten des Dritten Reiches waren eben sehr wachsam bei der Auswahl der musikalischen Umrahmung der Blitzkriege; Preußens! Gloria von einst und die Erinnerungen an den trotz des „Geistes von 1914“ vom wilhelminischen Reich verlorenen Krieg 1914/18 hatten keinen Platz im Repertoire neuer, endgültiger Siege.

Das Liedgut der Lahrerbibel ex 1858 kommt aus einer um 1858 versinkenden Welt. In ihm ist der seltsame, verwirrende und verzehrende Geist der Zeit der Revolution von 1848 und der darauffolgenden Reaktion. Der nunmehrige Reprint bringt die Titelblätter des zweiten Teils der Erstausgabe (Studentenlieder) sowie des dritten Teils (Volkslieder). Aber er unterschlägt den Titel des ersten Teils: Vaterlandsund Heimatlieder. Soviel Nostalgie wäre rebus sie stantibus im heutigen Deutschland „schädlich“. Indessen ist auch ohne das fehlende Titelblatt des ersten Teils das Buch mit seinem Inhalt eine Aufforderung zu einer Reise durch das ganze, heute zerstückelte Deutschland. Zum Rhein, zu den Universitäten Bonn, Freiburg, Straßburg noch mitinbe-griffen. Da ist Friedrich Suchers „Zu Straßburg auf der Schanz“ und das viel früher entstandene Lied vom tragischen Schicksal eines, der zur Fremdenlegion davonlief und aus Heimweh desertieren wollte: „O Straßburg, o Straßburg.“ Keine national- oder staatspolitisch inspirierte, dafür um so ergreifendere Melodien und Texte sind es, die das Wandern mainaufwärts nach Würzburg begleiten oder den Neckar entlang nach Heidelberg und Tübingen. „An der Saale hellem Strande“ trafen einander sachsen-weimaranische Jenenser und preußische Hallenser, etwa beim Besingen der Rudelsburg.

In vielem sind Volkslied und Studentenlied noch vollends eins. Wanderlust und Studententum klingen in dem auf, was längst als Volkslied — selbst in unserer Zeit — in vieler Mund ist: „Der Mai ist gekommen“, Text von dem wandernden 19jäh-rigen Studenten Emanuel Geibel.

Ernst Moritz Arndt (1769 bis 1860) selbst schrieb als „überalter Mann“ den Herausgebern der Erstausgabe mit noch zügiger Schrift jenes Gruß- und Geleitwort, das in den folgenden Ausgaben der Lahrerbibel immer wieder im Faksimile abgedruckt wurde. Und also beginnt auch die Reihenfolge der Vaterlandslieder mit Arndts: „Könnt ich Löwenmähnen schütteln mit dem Zorn und Muth der Jugend / wie gewaltig wollt' ich rütteln an des Tages blasser Tugend.“ In keiner späteren Ausgabe der Lahrerbibel kommt der Freiheitsdrang der Studenten und deren Verachtung für das Philistertum so echt und überzeugend zum Ausdruck, wie in der Erstausgabe. Ein letztes Mal vereinigt sich der Geist der Befreiungskriege von 1813/ 15 mit dem, der zur äußeren Freiheit Deutschlands auch die innere verlangte. Unter den Vaiterlands-liedem, nicht etwa unter den Studentenliedern, finden wir den Trost-und Trutzgesang des Kieler Burschenschafters Daniel von Binzer, entstanden 1819; nach der Unterdrückung der Burschenschaft: „Wir hatten gebauet ein stattliches Haus, und weiter im Text: „Das Band ist zerschnitten, was schwarz, rot und gold.“

Mit eben diesem schwarz-rot-goldenen Band und mit der Mütze seiner Breslauer Burschenschaft der Raczeks saß aber 1859 der Direktor des k. k. Burgtheaters Heinrich Laube aufs neue neben Franz Grill-parzer, auf dem Schillercommers der Wiener Studenten. Laube, wie Fritz Reuter, Arndt u. a. Opfer der „Demagogenverfolgung“ vor 1848 hat, wie so viele, mit der Zeit seinen Frieden mit der bestehenden Ordnung gemacht. Andere trieb es außer Landes. Wie etwa das Haupt des seinerzeitigen „radikalen“ Flügels der Burschenschaft der „Gießener Schwarzen“, Karl Folien (ertrunken 1840 in den USA). Sein 1817 verfaßtes Lied vom Turnerstaat mußte sich bis 1914 allerdings einige kräftige Textkorrekturen gefallen Jessen, um in der Lahrerbibel verbleiben zu können; zumal dort, wo fürderhin nicht „Zwingherrenwitz“, sondern „Knechtewitz“ Gottes Racheblitz tilgen sollte. Hingegen behielt die Melodie der Marseillaise, mit einem von einem gewissen Wurm, „weiland Bursch von Tübingen“, auch nach der Ausrufung des Reichs in Versailles 1871 den angestammten Platz in der Lahrerbibel. Welche Runde hat wohl später im wimelminischen Deutschland jene Sänger gepriesen, die „an Massilias Strand ein jubelten in Freiheitslust“, um zu dem Schluß zu kommen: „Nicht Herrschergabe, nicht ist's ein irres Trugbild; / der Ew'ge spendet klar und mild vom Himmelsborn der Freiheit Labe?“ Ludwig Uhlands Nachruf an die Volksvertreter im Frankfurter Parlament von 1848 hatte nicht allzulange Platz in der Lahrerbibel. Daß ein Vertrag und keine Gnade fortan das Volk an das Fürstenhaus blnden möge, davon war später weniger die Rede.

1974 gedieh das Allgemeine Deutsche Commersbuch zu seiner 158. Ausgabe. Der vorliegende Reprint weist es zum eventuellen Gebrauch nur noch den „spärlichen Uberresten .schlagender Verbindungen' und .Alten Herren' als Liedmaterial“ zu; quasi als ein Dokument, das auf der modernen Welle der Nostalgie ganz und gar ungehörigermaßen mitschwimmt und bestenfalls den Gewesenen den „Krug, das Glas“ in die Hand zu liefert Zweifellos eine unverdächtigere Lieferung als die heute gewohnten hard drinks, die einen Alkoholmißbrauch hochschnellen ließen, der alle einstens mit der „Bieruhr“ oder in „Bierdörfern“ verübten Exzesse in den Schatten stellt Von der aus Drogenphilosophie geborenen Drogensucht gar nicht zu reden.

Indessen: Es geht bei diesem Reprint weniger darum, ob an Deutschlands hohen Schulen zu Urgroßvaters Tagen mehr Mißbrauch mit der Freiheit getrieben wurde, als heute. Das sauber reproduzierte Buch bestätigt einmal mehr, daß die Geschichte der Deutschen auf weite Strecken die Geschichte des deutschen Studententums wurde und daß das studentische Lied diesen Geis« der Geschichte in immer wieder erneuter und nach den Zeltumständen veränderter Form Ausdrucks geben konnte. Was einmal von Dorpat im zaristischen Rußland bis ins kaiserlich französische, dann kaiserlich deutsche Straßburg gesungen wurde, vom schweizerischen Freiburg bis ins österreichische Czernowitz ist jedenfalls keine Sammlung von studentischen Evergreens. Solange jedenfalls nicht, als sich im Umkreis dieser Schulen, durchaus eigenständig, Dichtung und Musikalität in dem finden, was des Jubels und der Begeisterung der Studenten wert scheint.

Im Zeitalter der Mao-Bibeln ist die Lahrerbibel ein wenig „out“; so wie sie, trotz eifrigen Forschens der Herausgeber des Reprints, eben nicht geschaffen ist, um die Kom-militionen „der Linken zuzuwenden“ oder gar „das Klassenbewußtsein der Arbeiter“ im Sinne Marxens zu aktivieren“. Zugegeben: In einem nationalsozialistischen Deutschland hatte, und in einem sozialistischen Deutschland hat die Lahrerbibel keinen offiziellen Stellenwert Im herrschenden Establishment. Was diese Bibel nicht nur dem deutschen Liedgut an Großem und Unersetzlichen geschenkt hat, das müßte wohl mit einem anderen Zollstock gemessen werden, als jenem, der heute im Gebrauch deutscher Zensoren steht.

ALLGEMEINES DEUTSCHES COMMERSBUCH (Erstausgabe 1859). Reprint 1975, Wilhelm Heyne Verlag, München. Taschenbuchausgabe, 359 Seiten.

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