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Die Bildungsges.m.b.H.

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Die - wahre - Geschichte machte im September des Vorjahres die Runde: Ein Erwachsenenbildner in Wien chauffierte wochenlang einen jungen Arbeiter an seinen Arbeitsplatz, weil dieser die Straßenschilder nicht lesen konnte und sich daher laufend verirrte. Ein drastisches Beispiel für die österreichische Bildungsgesellschaft mit beschränkter Haftung.

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Die - wahre - Geschichte machte im September des Vorjahres die Runde: Ein Erwachsenenbildner in Wien chauffierte wochenlang einen jungen Arbeiter an seinen Arbeitsplatz, weil dieser die Straßenschilder nicht lesen konnte und sich daher laufend verirrte. Ein drastisches Beispiel für die österreichische Bildungsgesellschaft mit beschränkter Haftung.

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Die oberösterreichische Studie über die katastrophalen Rechtschreib-, Lese- und Rechenkünste heimischer Pflichtschulabgänger (FURCHE 17/ 1991) war nicht die erste Alarmmeldung dieser Art. Und für Fortsetzung ist bereits gesorgt: Die Wiener Wirtschaftsuniversität ergänzte die Mängelliste mit der Mitteilung, daß auch Maturanten im Durchschnitt nicht besser rechnen können als Vierzehnjährige, die sich um eine Aufnahme in die Höhere technische Lehranstalt bewerben.

Gespielte Überraschung löst kein Problem - sonst müßte es längst gelöst sein.

- Seit März 1987 weiß man spätestens auch hierzulande um den sogenannten funktionalen Analphabetismus, der - wie andere Industriestaaten auch - Österreich heimgesucht hat. 100.000 Österreicher(innen), warnten Experten, könnten gerade noch ihren Namen schreiben - mehr nicht. Das aufgeschreckte Unterrichtsministerium „erfand" im Verein mit den Wiener Volksbildnern das Programm „Deutsch fürDeutschsprachi-ge".

„Was Hänschen nicht lernt"

- Die Hälfte der Hauptschulabgänger in Österreich habe deutliche Schwierigkeit mit dem Lesen und Schreiben, konstatierte Richard Ole-chowski vom Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien im November 1987.

- Einen zehnprozentigen Rabatt von 110.000 Schilling - ergab eine Fessel-Umfrage im Frühjar 1988 - können 17 Prozent überhaupt nicht ausrechnen, ein Drittel rechnet falsch. Sogar für 28 Prozent der Hochschulabsolventen zählt das schon zur „höheren" Mathematik.

- Im August 1990 ergab eine Studie des Wiener Instituts für Jugendliteratur und Jugendforschung, daß zehn Prozent der Pflichtschulabsolventen sogar mit der Aufgabe überfordert sind, eine Ansichtskarte zu schreiben.

Dabei experimentieren seit zwei Jahrzehnten Bildungspolitiker, Bildungsplaner, Bildungsökonomen und Erziehungswissenschaftler an einer besseren Schule herum. Jahre der

Hochkonjunktur wissenschaftlicher Pädagogik mit abgesegneten Didaktikrezepten, 'wo mit individuellen Begabungen und persönlichen Schicksalen jongliert und kalkuliert wird. Dazu die Dauerklage über Schul- und Schülerstreß - bis hin zu den Selbstmorden überforderter Schüler. Das abgedroschene Schlagwort der Lehrplanentrümpelung wurde nur von einem Lieblingswort der Bildungspoltiker - einmal positiv, einmal negativ besetzt - übertroffen: die Gesamtschule der Zehn- bis Vierzehnjährigen als Allheilmittel.

Und so läuft die Diskussion auch diesmal. Fehlschläge und Fehlentwicklungen dürfen nicht eingestanden werden.

„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr." Sprichwörtliche Lebensweisheit wird gegenwärtig auf

fung nicht Stellung nehmen möchte, bildhaft: „Wir rasen in einem Expreßzug durch den Lernstoff - und sollten eigentlich eine Fußwanderung machen." Beim Wichtigen verweilen.

Der Vernachlässigung der elementaren „Kulturtechniken" ist seiner Meinung nach daher nicht durch organisatorische Veränderungen beizukommen, sondern durch eine „echte innere Renaissance" mit Rückführung des Grundschulunterrichtes auf eine „umfassende Allgemeinbildung".

Ausweg: Mut zur Fachlücke

Strickers Alternative: Die starke Fächerorientierung - „auch schon in der Volksschule" - müsse zurückgenommen, die „Sicherung und Vertiefung von Grundkenntnissen und Fertigkeiten" dagegen soll forciert wer-

den Kopf gestellt. Vor dem Hintergrund der höheren Lebenserwartung darf zwar bereits laut über eine Hinaufsetzung des Pensionsalters nachgedacht werden, nicht aber über ein fünftes Volksschuljahr.

Gelehrt und gelernt wird viel, aber quasi im Vorübergehen. „Viele haben zwar die formalen alphabetischen Techniken so recht und schlecht zu beherrschen gelernt, aber nicht, wie man sie aktiv gebraucht, wie man die kognitiven Verarbeitungsstrukturen gewinnt, die verstehendes Lernen und selbständiges Produzieren von Texten erst möglich machen", umschrieb etwader Sprachwissenschaftler Heinz Giese das Problem.

Adolf Stricker, amtsführender Präsident des niederösterreichischen Landesschulrates, übersetzt das, auch wenn er zu Einzelheiten der ober-österreichischen Studie bis zur Prü-

den. Und als Lehrer möchte er seine Kollegen ermuntern, „den Mut zur Fachlücke" aufzubringen, die Allgemeinbildung vor Einzelheiten reiht: „Da gibt es ein Fachsyndrom."

Überfrachtete Schulbücher, „in die hineingepreßt wird, was nur geht", wirkten mitsamt übervollen Lehrplänen - „und die sind ja auch nicht hun-derprozentig abgestimmt" - heute demgegenüber entmutigend: „Läßt ein Lehrer etwas aus, heißt es sofort: Der ist ein schlampiger Kerl."

Zurücknahme der Fachorientierung von der Volksschule an, dafür ungleich mehr Zeit zur Sicherung des „Unterrichtsertrages" und zur „praxisorientierten Anwendung": Schulartenübergreifende Fortbildungsveranstaltungen, die Strickers Landes-schulbehörde in diesem Sinn seit zwei Jahren anbietet, würden „von den Lehrern als erlösend" angenommen.

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