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Die „Biographie" von Wiener Jugendcliquen

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Gruppen und Cliquen von Jugendlichen werden in der veröffentlichten Meinung rasch zu „Banden". Und das klingt nach Kriminalität. In den letzten Wochen schlug die Boulevardpresse lustvoll diese Laute an. Von Politik und Polizei wird hartes Durchgreifen gefordert. Den Hintergrund leuchtet eine Wiener Untersuchung aus.

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Gruppen und Cliquen von Jugendlichen werden in der veröffentlichten Meinung rasch zu „Banden". Und das klingt nach Kriminalität. In den letzten Wochen schlug die Boulevardpresse lustvoll diese Laute an. Von Politik und Polizei wird hartes Durchgreifen gefordert. Den Hintergrund leuchtet eine Wiener Untersuchung aus.

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Hätte man rechtzeitig auf die Warnungen der Sozialarbeiter und Street-worker gehört, wäre die Überraschung geringer gewesen. Denn häufig wurde von einer vorhandenen Gewaltbereitschaft einer sozial, kulturell und bildungsmäßig benachteiligten Jugendszene gesprochen, der nur durch ein umfassendes Programm zur Rückgewinnung sozialer und kultureller Entwicklungsräume für (ältere) Kinder und Jugendliche beizukommen ist.

Dabei kann gar nicht deutlich genug gemacht werden: Die Kriminalität gleichaltriger Jugendgruppen, die sich oft in öffentlichen Gewaltdelikten äußert, deren Opfer zumeist wiederum Jugendliche anderer Gruppen sind, ist nicht vergleichbar mit Straftaten, die von den berüchtigten Gangs in Los Angeles oder New York begangen werden. Die selbst gewählten Namen wie Creeps, Ultras, Hools, White Lifes, Bioods, Rangers, 49ers, Türkenmafia, Red Brothers, Skinheads oder Young Guns zielen auf eine nach außen gerichtete Gruppenidentität.

Ein Gruppenkern aus zwanzig bis fünfundzwanzig Jugendlichen wird von einer Peripherie umgeben, die aus fluktuierenden Personen besteht. Diesen Gruppenkern repräsentieren Personen, die eine längere Zeit andauernde, gemeinsame Biographie verbindet. Diese Freundschaften und Bekanntschaften reichen häufig weit in die - oft auch vor die - gemeinsame Pflichtschulzeit zurück. Und meistens kommen die Mitglieder der Kerngruppe aus einer gemeinsamen Wohnumgebung.

Die Symbolik und die Rituale der nach außen gerichteten Gruppenidentität sind meist in den Freundeszirkeln im Alter von zwölf bis 13 Jahren entstanden und sind in der Regel aus den Medien übernommen worden, nicht zuletzt aus „Kultfilmen". In manchen Gruppen erfolgt eine ethnische Durchmischung, doch in der Regel tendieren etwa Türken und (ehemalige) Jugoslawen zu getrennter Gruppenbildung.

Als selbstdefinierter Gruppenzweck wird von den Jugendlichen häufig das gemeinsame und lustvolle Verbringen der Freizeit genannt. Das ist an sich nichts Auffälliges: Wichtig für die gesellschaftliche Integration Jugendlicher, verbunden mit der Ablöse von der Herkunftsfamilie, ist das soziale Lernen in der Gruppe von Gleichaltrigen.

Soziales Lernen für Jugendliche bedeutet, Grenzerfahrungen zu machen. Für einen Jugendlichen, der als Ausländer identifiziert wird, obwohl er österreichischer Staatsbürger ist, kann das rasch zum Problem werden. Dann ist die Akzeptanz in gesellschaftlich anerkannten Vereinigungen kaum gegeben.

Neben dem Aspekt der gemeinsamen Freizeitgestaltung steht bei den untersuchten Gruppen die Funktion der Kontra- oder Abwehrgemeinschaft im Vordergrund. Der selbstdefinierte Gruppenzweck wird in der Regel als ein Zusammenschluß gegen eine Bedrohung von außen gesehen. Die Bedrohung läßt sich klar erkennen: andere Jugendgruppen mit ent-gegengesetzen Zielen. Dies sind vor allem bei Jugendgruppen, die sich aus Personen ausländischer Herkunft zusammensetzen, Gruppen mit rechtsradikaler oder zumindest ausländerfeindlicher Orientierung. Und umgekehrt. Gruppenmitglieder mit besserer Schulausbildung und höherer Re-flexionsfähigkeit nennen ihre Intention „antifaschistisch".

Bekleidung und Mode haben eine außerordentlich große Bedeutung. Um zu einer Gruppe zu gehören, ist es unabdingbar, bestimmte Bekleidungsmarken zu kaufen. Entscheidend sind nicht die ästhetischen Kriterien, sondern der Preis der Bekleidung, der durch den groß aufgedruckten Markennamen sichtbar wird.

Wichtig ist den Jugendlichen, kein „Prolo" zu sein. Eine Frisur, bei der die Haare vorne kurz und hinten lang und mit Dauerwelle oder gefärbt getragen werden, kennzeichnet den „Prolo". Darüber hinaus trägt der „Prolo" schwere Goldketten und Jog-ginganzüge der Firma „Boss", ist solariumgebräunt und geht mit dem Anzug in die Disco. Für viele Jugendliche hat die Frisur eine besondere Bedeutung. Im Bereich der Frisuren, nimmt man die vorhin beschriebene „Prolofrisur" aus, herrscht große Toleranz. So ist es möglich, die Haare lang zu tragen, im „Block-Head-Look" oder im Stil der „Psychos" (ein weit über die Stirn hinausragender, kunstvoll geformter „Spitz"). Gezielte Demütigungen, die im Konfliktfall von anderen Gruppen (zum Beispiel Hools) am Gegner verübt werden, stellen dabei nicht selten auf die Zerstörung der Frisuren ab. So wird den „Psychos" der „Spitz abgebrannt" oder denen, die mit Stolz lange Haare tragen, werden sie abgeschnitten.

Kurz charakterisiert hat das durchschnittliche Mitglied einer Jugendgruppe laut Untersuchung folgende Merkmale: Männlich, in Österreich geboren, mittelmäßiger bis schlechter Schüler gewesen (Eigendefinition), meist berufstätig, letztlich bürgerliche Zukunftserwartungen (Glück, Familie, gesicherte Existenz), schon öfters Kontakte mit der Polizei (Zeugenaussagen, Gewahrsam), aber selten vorbestraft, häufiger Alkohol- und Cannabisgenuß; im elterlichen Haushalt wohnhaft, meist mit beiden Elternteilen, die bereits zwanzig Jahre und länger in Wien wohnhaft sind; Väter eher autoritär und stark heimatorientiert, die Mütter zumeist österreichische Staatsbürgerinnen, starker Mutterbezug. Beide Elternteile sind berufstätig, stark integrationsbestrebt und obrigkeitshörig.

Hilfe für „normales Leben"

Ziel einer Therapie müßte es sein, junge Menschen, die am Rande zur Kriminalisierung stehen, so zu unterstützen, daß sie am Ende der Adoleszenzphase wieder in das „normale Leben" eintreten können. Polizeiliche und gerichtliche Sanktionen, auch eine stigmatisierende Medienberichterstattung, richten sidh gegen die Folgen, nicht gegen die Ursachen. Vielmehr müßte daher therapeutische Unterstützung in einem ausgebauten und ausgeklügelten System so angeboten werden, daß Jugendliche diese Hilfe der Gesellschaft auch annehmen können. Darin besteht die Herausforderung für Politik und Gesellschaft.

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