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Die Buchbrettfahrer

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Von einem dramatischen Verfall unserer Lesekultur sprechen die Verfasser der neuesten Studie „Jugend und Medien“ (im Auftrag von ARD, ZDF und Bertelsmann). Wie allen Aussagen von Trendforschern, so sollte man auch dieser Botschaft mit Vorsicht begegnen. Allein schon der Begriff „Lesekultur“ lädt zu grundsätzlichen Überlegungen ein.

In guten alten Zeiten waren sich Verleger und Autoren einig, daß Bücher zum Zwecke des Lesens geschrieben würden. Heutzutage, da es nur noch wenige Verleger und Autoren, aber umso mehr Bücherproduzenten und ihre schreibenden Ausführungsorgane gibt, klingt diese Definition beinahe schon altväterlich. Denn das einst ausgewogene Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage hat sich zugunsten des Angebots verschoben.

Zunächst einmal muß zwischen Buchkauf und Buchlesen unterschieden werden, was nicht zwangsläufig miteinander korrespondiert.

So zählt der Käufer im klassischen Sinne, der ein von ihm erworbenes Buch tatsächlich (aus-) liest, heute zu einer raren, von den Sortimentern überdies wenig geschätzten Spezies. Letzteres vor allem, weil er während tage-oder wochenlanger Lektüre für den Erwerb weiterer Titel ausfällt.

Nach buchhändlerischem Marktverständnis stellt der klassische Käufer somit totes Kapital dar — Kapital zwar, weil durchaus ansprechbar, aber eben tot, weil nur in unrentablen Zeiträumen zu aktivieren.

Besäßen alle Alphabeten eine solche gewissenhafte Einstellung zu Bedrucktem, dann ließe sich die Frankfurter Buchmesse auf das überschaubare Maß einer Tennishalle reduzieren.

Damit die zahllosen Bücher, die heute nun mal gedruckt werden, sich nicht selber lesen müssen, vertrauen die Produzenten und ihre schreibenden Ausführungsorgane auf ein wichtiges Marktgesetz, welches besagt, daß sich jede Ware auch ihre Abnehmer schaffe.

Gefördert wird dies durch die Evolution des Homo sapiens, die sich gottlob häufig marktkonform verhält. So zeugt die Entwicklung der Menschen hin zu höheren Geisteswesen auch neue Arten von Buchkäufern, die im Gegensatz zum klassischen (Aus-)Leser hohe Zuwachsraten garantieren.

Es sind dies, um nur einige zu nennen, die Anleser, Diagonalleser, Rezensionsleser, Möchte-gern-in Zukunft-Leser und schließlich der Sortimenter liebste Kunden: die nichtlesenden Regalfüller.

Bei den An- und Diagonallesern handelt es sich zumeist um Professionelle. Die Strickart des Autors haben sie bereits nach wenigen Sätzen erkannt; der Buchinhalt wird dem Waschzettel entnommen. Das genügt, um literarische Streitgespräche führen und Rezensionen verfassen . zu können.

Diese Professionellen sind im übrigen ein für unsere arbeitsteilige Gesellschaft typisches Element, da sie den literarischen Trittbrettfahrern, nämlich den Rezensions- und Möchte-gern-in Zukunft-Lesern sowie den nichtlesenden Regalfüllern, die Mühe der Buchlektüre abnehmen.

Rezensionen, Klappentexte und nicht zuletzt Autorenlesungen schenken so dem modernen Buchkäufer eine ähnliche Zeitersparnis wie etwa den vom Scheuerlappen emanzipierten Hausfrauen der Allzweckreiniger: Die durch aseptische Begegnung mit dem Buch bzw. Fußboden gewonnenen Stunden können in Fernsehkonsum investiert werden.

Der Verfall unserer Lesekultur erscheint nach alledem nicht so dramatisch, wie es uns die obengenannte Studie weismachen will. Denn die Tätigkeit hat sich ja nur vom Selberlesen hin zum Lesenlassen verschoben.

überdies folgt daraus ein doppelter Nutzen für zwei kulturschöpfende Produktionszweige unserer Volkswirtschaft. Einerseits steigen Zahl und Auflagenhöhe der nur noch mittelbar zu lesenden Bücher, andererseits erfährt das Fernsehen in wachsendem Maß die ihm eigentlich schon seit eh und je zustehende totale Zuwendung.

Das segensreiche Regulativ unserer sozialen Marktwirtschaft stellt sich so wieder einmal unter Beweis.

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