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Die Chance der neu entdeckten Sprache

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Vaclav Havel hat in einem Essay, betitelt „Der Prozeß“ (in der Zeitschrift L 76 des vergangenen Jahres), jene Atmosphäre geschildert, die er bei Prozessen gegen mißliebige Künstler in seiner Heimat miterlebt hat. Eindrucksvoll zeichnet er nach, wie „die Welt der Hintertür“ in den großen Streit um den Sinn des Lebens hineingezogen wird. An Stelle gewohnter Umgangsformen und vorsichtiger Zurückhaltung tritt deutlich das gemeinsame Anliegen der Menschen im Auditorium, und was sonst kaum einer zu denken wagt, wird völlig Unbekannten offen mitgeteilt

Kurz vor seinem Tod am 13. März des Vorjahres hat Jan Patoc'ka in seinem Vermächtnis an die Bürgerrechtsbewegung Charta 77 geschrieben: „Je größer die Angst und die Servilität, desto frecher waren, sind und werden auch in Zukunft die Mächtigen sein. Es gibt kein anderes Mittel, ihren Druck zu verhindern, als sie zu verunsichern, wenn ihnen bewußt gemacht wird, daß Ungerechtigkeit und Diskriminierung nicht vergessen sind und darüber kein Gras gewachsen ist. Dies ist kein Aufruf zu ohnmächtigen Drohungen, es ist die Aufforderung zu einem unter allen Umständen würdigen, unerschrockenen, wahrhaften Auftreten, das einfach dadurch imponiert, daß es sich vom offiziellen Auftreten grundsätzlich unterscheidet.“ Die Haltung kleinlicher Rücksichtnahmen um bestimmter Vorteile willen wird gegen die mutige Offenheit und Wahrhaftigkeit gesetzt.

Daß der Mensch Rechte besitzt, wird angesichts von Prozessen deutlich, in denen es nicht um Delikte, sondern um das Anders-Sein-Können, die Freiheit von technologischer Stanzung des Typus Mensch, von Sozialisierung um den Preis der Menschenwürde geht. Angeklagt ist die Politisierung, der Zwang zur passiven Durchschnittlichkeit, zur Anpassung an Lebensbedingungen, die Initiative von vornherein vereiteln. Der Mensch ist dadurch existenzfähig, daß stets neu die Fähigkeit eigenverantwortlicher Tätigkeit erprobt wird. Wer dies bedenkt, weiß um die grundsätzliche Bedeutung des Anliegens der rund tausend Unterzeichner der Charta 77 in der ÖSSR.

Diese Grundsätzlichkeit weist weit über die innenpolitische Situation die-' ses“'Landes hinaus. Es ist selbstverständlich, daß sie von der Regierung bestritten wird: Das traditionelle politische Denken hält sich an die Souveränität des Einzelstaates. Es wird geleugnet, daß es eine internationale Solidarität der Freiheit vom Zwang, von der Gewalt gibt - zwar nicht offiziell, aber in den vielen kleinen Einzelmaßnahmen des Alltags, die in offenem Widerstand zu den unterzeichneten internationalen Gesetzen und zu feierlichen Deklarationen stehen. Um diesen Widerspruch geht es, das haben die Unterzeichner der Charta von Anfang an betont.

Insofern ist auch die Bewegung der Charta einzigartig: Sie ist nicht - wie der Frühling 1968 - ein Reform versuch des Sozialismus, im Sinne des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Die seinerzeitigen Wortführer hatten und haben sich jetzt auf breiter Ebene mit allen Ausgestoßenen, in den Untergrund Abgedrängten, verbunden. Der Repräsentant des Prager Frühling in der Charta, der Außenminister von 1968, Jin Hajek, hat vor kurzem im Verlag Editori Riuniti einen Rückblick „Zehn Jahre danach“ publiziert. Der damalige Alleingang einer innersozialistischen Reform war das wesentliche Schwächemoment der politischen Bestrebungen von 1968.

Wer dieselbe Denkstruktur wie sein Gegner besitzt, kann sich von ihm nicht entscheidend lösen. Dies ist das Fazit der Beobachtungen, die Jan Skala über das politische Taktieren der Führung Dubcek nach der sowjetischen Intervention publiziert hat. Die Beschwichtigungspolitik der Reformisten gegenüber den in der Minderheit befindlichen Ultras orthodoxer Prägung hat, Skala zufolge, die aktive Massenbewegung entscheidend geschwächt. Die sich von oben nach unten zielstrebig durchsetzende „Säuberung“ konnte so relativ widerstandslos durchgeführt werden. Man arbeitete -immer in solchen Fällen, mit der Existenzangst: Fragebogen über politische Option und politisches Verhalten, die vollständige organisatorische Neuordnung aller berufsspezifischen Verbände.

Zwischen 1969 und 1972 wurden etwa 4000 Personen in politische Prozesse verwickelt. In Kultur und Wissenschaft brachte der „Normalisierungsprozeß“ mit sich, daß die kreativen Kräfte ihrer offiziellen Stellung beraubt wurden. Die Bürokratie verläßt sich auf anpassungsfähige Funktionäre. Es ist im Westen nicht unbekannt geblieben, daß viele der Begabtesten jetzt unter äußerst demütigenden Bedingungen leben müssen. Auch sowjetische Wissenschafter haben vielfach nach ihren Kollegen gefragt. Polizeidurchsuchungen nach Manuskripten im Haus von renommierten Autoren brachte dann das Jahr 1975.

Der Verödung der offiziellen Landschaft entsprach die Solidarisierung der schöpferischen Persönlichkeiten im Untergrund, gleich welcher politischen Option. Marxisten, Christen, Liberale begegneten einander in der inneren Emigralion. Die Edition Petlice (Riegel) ist das Organ, in dem Romane, Essays über Phüosophie, Geschichte, Gesellschaft von Autoren der nicht-offiziellen Kultur in maschinenschriftlichen Exemplaren verbreitet werden. Es liegen gegen 90 Hefte vor. Eine neue Öffentlichkeit entsteht, mit geringstem organisatorischem Aufwand und erstaunlicher Wirkung. Hier werden die Maßstäbe kultureller Kreativität gesetzt.

Das Bewußtsein neuer Perspektive bleibt aber nicht auf den engeren Kreis beschränkt, es entsteht die Atmosphäre des Vertrauens: In breiten Bevölkerungsschichten weiß man, daß es Menschen gibt, die über den Tag hinaus denken. So bedurfte es nur des Anlasses, um an die Öffentlichkeit zu treten - den Prozeß gegen die „Plastic People of the Universe“, eine Pop-Musik-Gruppe. Patoc'ka folgte der Bitte der wegen ihrer künstlerischen Aussage Angeklagten, um für sie Partei zu

ergreifen. Mit anderen verfaßte er eine Bittschrift an Staatspräsident Husäk. Nach Monaten des Wartens auf Antwort wandten sich die Bittsteller an Heinrich Boll.

Vieles spricht dafür, daß dieser Schritt nicht folgenlos war. Aber die Zermürbungstaktik amtlicher Stellen und die Erfolglosigkeit so vieler Eingaben, Beschwerdien, Petitionen ließ den Wunsch nadh' einem breiten Forum wachsen, von dem aus mit den zuständigen Stellen der Kontakt wegen der gesetzwidrigen Eingriffe in die Rechte der Bürger aufgenommen werden konnte: Es entstand die Charta.

In der Tat hat die Charta dann die politische Führung verunsichert. Diese versuchte sich in unterschiedlichen Taktiken: Versuche des Totschweigens, des Uberspielens, Pressekampagnen, Rufmord an Unterzeichnern der Charta.Übergriffe von Sicherheitsorganen lösten einander unentwegt ab. Eine Anti-Kampagne, eine Chartisten-Gegner-Unterschriftsaktion brachte keinen Erfolg, wurde abgebrochen. Mit Recht weist Zdenek Mly-näf darauf, daß individuelle Unterschriften - im Unterschied zu den sonst üblichen stellvertretenden Unterschriften von kleinen Kollektiva gesammelt wurden. Man ahmte also das Vorbild Charta nach! Ein „Achtungserfolg“ war die Deklaration offizieller Künstlerverbände gegen die Charta, jedoch nur von kurzer Dauer. Die Repression gegen Unterzeichner der Charta selbst begann.

Viele Prozesse wurden bekannt. Aber es gelang nicht, die Opposition zu brechen. Im Gegenteil: Mit dem Druck der amtlichen Stellen wuchs der Wille zum Widerstand. Die Beerdigung des nach langen Verhören verstorbenen Patocka am 16. März wurde zum Symbol: Trotz polizeilicher Bewachung und Kontrolle waren etwa tausend Menschen gekommen. Die Trauerfeier wurde durch den Lärm der über dem Friedhof kreisenden Hubschrauber und einer Motorrad-Rallye begleitet Man kann nicht auffälliger zum Ausdruck bringen, worum es geht - um den Menschen inmitten entfesseltet Technik.

Zum ersten Jahrestag der Charta am 6. Jänner 1978 wurde erneut die Einhaltung der geltenden Gesetze, Rechtssicherheit, parlamentarische Kontrolle der Administration, Amnestie für politische Gefangene gefordert. Die internationalen Abmachungen sollen in entsprechender Auflagenhöhe veröffentlicht werden, die Kompetenz der UNO-Menschen-

rechtskommission sei praktisch anzuerkennen. Selbstverständlichkeiten also - klare Forderungen, die im Einklang mit allgemein anerkannten Grundsätzen des menschlichen Zusammenlebens stehen. Was gilt, sind nicht Worte, sondern die Taten. Aber in vielfacher Weise bedingen Worte Taten. Ideologisierte Worte, die unabhängig von Taten Geltung haben, ha-

ben zur Folge, daß sie die Menschen in Freund und Feind scheiden. Wer sich aus ideologischer Sprache befreit, ist der Feind. Daß die ideologische Sprache tötet, mußte kürzlich erst in Paris von Revoltierenden des Mai 1968 neu entdeckt werden.

1968 in Prag und Paris: Der aufrichtige Versuch, im ideologischen Bann sozialistischer Worthülsen die Befreiung des Menschen einzuleiten. Beide Versuche scheiterten. Auch jetzt noch glauben viele an den emanzipatori-schen Charakter des demokratischen Sozialismus. Vielen sind daher die Chartisten soweit recht, als sie eine innermarxistische Diskussion um die Verwirklichung des Sozialismus beleben. In der Charta geht es um anderes: Mit der Sprache soll ausgesagt werden, was Menschen verbindet - und nicht trennt. Daher ist hier das Forum aller, die gegen ideologische Sprachdiktatur auftreten. Daher wird in den Dokumenten der Charta unmißverständlich über die Situation der Wirtschaft, der Arbeiter, der mit kulturellen Aufgaben Befaßten, der Kirchen berichtet.

Daß heute die Autorität internationaler Abmachungen Gewicht für die Lebenschancen der Menschen hat, daß Recht und Würde des Menschen über die Parteiung und die Interessenlage von Gruppen hinausweisen, wird erfahrbar. Die Erfahrung reicht von der neuen, Verbindlichkeit stiftenden Sprache bis zu den Repressionen, denen die ausgesetzt smd, die sie sprechen. Beides ist nicht voneinander zu trennen.

Kann es, so fragt mancher, noch Recht geben, wo Prozesse gegen jene geführt werden, die für Recht und Würde des Menschen eintreten? Denken wir an die übliche Taktik: Mißliebige werden provoziert, nachher läßt sich leicht zeigen, daß der Mißliebige in irgendeinen Tatbestand verwickelt ist. Meistens werden nur die Inhaftierung und Prozeßführung, die sich gegen Prominente richtet, beachtet. Die vielen Kleinen werden vergessen. Auch sie überwinden größte Schwierigkeiten!

Neben den Prozessen gibt es jetzt auch Gesprächskreise, die in Prag und anderswo zusammentreten und unter dem Namen „Jan-Patoc'ka-Universi-tät“ Gegenwartsfragen erörtern. Die auch aus Polen bekannte Initiative zur 'Erneuerung der intellektuellen Auseinandersetzung - alternativ zum offiziellen Akademismus - ist ermutigend. Rasche Erfolge sind nicht zu erwarten. Wer auf rasche Erfolge setzt, hat das Große aus den Augen verloren. Das gilt für die Initiative der Charta allgemein. Wenn eine Hoffnung auf eine Zukunft der Menschen, die sich auf den Mut der Menschen gründet, besteht, dann ist sie die neue Sprache, für die die Charta ein Zeugnis von Gewicht ist

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