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Digital In Arbeit

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FURCHE:Nach einem „heißen“ Arbeitskampf wurde in der Bundesrepublik im April dieses Jahres die 38^-Stunden-Woche in der Metall-, Drucker-, Stahl- und Holzbranche eingeführt. Lassen sich schon konkrete Auswirkungen feststellen?

BERNHARD TERIET: Empirisch ist das nicht feststellbar. Dazu ist die Zeit zu kurz. Und auch arbeitsmarktpolitisch sind wir auf Spekulationen angewiesen.

FURCHE: Aber gerade in der Metallbranche war doch auch in den deutschen Medien immer, die Rede von zusätzlich 80.000 neuen Arbeitsplätzen...

TERIET: Das ist ein Unfug. Man kann zwar aufgrund theoretischer Modelle Arbeitsplätze prognostizieren. Aber was sich in der Praxis tatsächlich auf eine Arbeitszeitverkürzung oder, wie in der Metallbranche, auf die bessere Konjunktur zurückführen läßt, ist nicht berechenbar.

FURCHE: Was hat dann die Arbeitszeitverkürzung Ihrer Meinung nach bis jetzt konkret gebracht?

TERIET: Sie hat auf jeden Fall eine Enttabuisierung des starren Arbeitszeitkorsetts, wie wir es noch immer großteils haben, gebracht.

FURCHE: Das dicke Ende kommt erst?

TERIET: Für mich und viele andere ist die jetzige Form der Arbeitszeitverkürzung ein Meilenstein für die zukünftige Entwicklung im Bereich Mensch und Arbeitswelt. So werden wir beispielsweise lernen müssen, nicht mehr von Arbeitsplätzen zu sprechen. Man wird vom Denken weggehen müssen, ein Arbeitsplatz ist gleich eine Arbeitskraft. Diese Formel gehört der Vergangenheit an.

FURCHE: Bedeutet das Mehrfachbesetzungen von Arbeitsplätzen?

TERIET: Es bedeutet die Teilung vorhandener Arbeit in verschiedene Formen. Das geht allerdings tiefer als der Appell mancher Sozialpolitiker, die eine vorhandene Arbeit schlichfquantita-tiv aufteilen wollen. Wir müssen den Begriff der Arbeit wieder weiter fassen, mit anderen Inhalten versehen...

FURCHE: ... Sie gehen also auch von der These aus, den Menschen gehe tendenziell die Arbeit in der heutigen Form aus?

TERIET: So kann man die Frage nicht stellen. Aber sehen Sie sich die Entwicklung bei der Produktion von Grundnahrungsmitteln an: vor 100 Jahren waren in diesem Bereich noch 90 Prozent der Beschäftigten tätig. Heute sind es in den Industriestaaten durchschnittlich fünf Prozent. Und die produzieren sogar so viel, daß Ernten teilweise, wie in der Europäischen Gemeinschaft, vernichtet werden. Das ist alles ein Ergebnis technischen Fortschritts, der auch in den anderen Bereichen kommen wird.

FURCHE: Was soll dann der neue Arbeitsbegriff beinhalten?

TERIET: Arbeit ist dann jede Art von schöpferischem Tun. Dazu gehört dann auch die Erziehungsarbeit, die Altenbetreuung usw. Auch die Zeit, die man mit der Familie verbringt.

FURCHE: Wie soll denn die Neuverteilung der Produktivitätsleistungen vor sich gehen?

TERIET: Jeder muß ein Mitspracherecht haben. Wieviel Zeit er am Arbeitsplatz verbringt oder mit der Familie oder welche Prioritäten er sonst im Leben setzt.

FURCHE: Das setzt aber ein Menschenbild voraus, von dem wir heute noch sehr weit entfernt sind. Wer soll denn diesen Geist von mehr Verantwortungsbewußtsein und mehr Solidarität in die Gesellschaft bringen? Die Tendenzen gehen doch in die Richtung, den Menschen noch mehr zu verwalten, ihn noch mehr zu „betreuen“.

TERIET: Das ist die Aufgabe einer verantwortungsbewußten Bildungs- und Familienpolitik. Aber noch viel mehr eine Herausforderung an die Theologie. Sie muß den Begriff des Teilenkönnens und der Solidarität wieder neu aufleben lassen.

Bernhard Teriet ist Wissenschafter am Ir-stitut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Das Gespräch führte Elfi Thiemer. nach einer generellen Arbeitszeitverkürzung *für alle Branchen (Murmann). Einer Forderung, die im Grunde genommen von der Belegschaft der von der FURCHE befragten Betriebe als „von oben diktiert“ empfunden wird. Wie z. B. von Josef Aumann, dem Geschäftsführer der Missionsdruk-kerei St. Gabriel in Niederösterreich.

Ähnliche Argumente wie im grafischen Gewerbe fallen auch beim zweiten Vorreiter der Arbeitszeitverkürzung, bei der Zuk-kerindustrie.

Hier gab es vom 1. Februar bis 31. August 1985 die probeweise Einführung einer auf 38 Stunden verkürzten Arbeitszeit. Allerdings ohne Lohnverzicht der Arbeitnehmer und auch aus anderen Motiven heraus wie bei den Druk-kern.

Mit der im August zu Ende gegangenen „Probezeit“ ist man auch hier nicht zufrieden. Zu große Arbeitsbelastung und zu wenig Facharbeiter im Bedarfsfall heißt es einstimmig.

Soweit man die Erfahrungen bis jetzt abschätzen kann, ist niemand so recht zufrieden mit Sozialminister Alfred Daliingers Krisenmedizin.

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