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Digital In Arbeit

Die Chancen der Zukunft verteidigen

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I^J och heute gibt es in Österreich Menschen, die den Sozialisten eine simple Ratzeputz-Mentalität bescheinigen: die wollen ja nur das Unterste zuoberst drehen, morgen schon alles ausrotten, was gestern geschaffen wurde und heute noch Gültigkeit hat.

Würde man diesen Menschen das Marx'sche Kommunistische Manifest zu lesen geben (wobei man das Titelblatt verdecken müßte), sie wären zumindest mit dem ersten Teil der Arbeit ziemlich einverstanden.

Seitenweise lobt Karl Marx die Errungenschaften des Kapitalismus, die revolutionäre Kraft der Bourgeoisie, den gewaltigen Aufschwung der Menschheit mit dem Beginn der kapitalistischen Produktionsweise. Er preist die zivilisatorische Gewalt, mit der der Kapitalismus selbst die rückständigsten Ge-

Seilschaften aus der Dunkelheit reißt, schwärmt über die Unterjochung der Naturkräfte, die Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, die Urbarmachung ganzer Erdteile, die Schiffbarmachung der Flüsse.

Erst die Bourgeoisie hat bewiesen, was die Tätigkeit des Menschen zustande bringt, schreibt Marx. Sie hat die nationale und geistige Beschränktheit aufgehoben. Das alles soll weggewischt werden wie überflüssiges Gerumpel? Darauf soll die Gesellschaft von morgen verzichten können?

Nur ein utopischer Schwärmer könnte solches fordern. Die historische Analyse endet aber nicht mit den Jugendjahren des Kapitalismus. Er, der als Feuergeist die Bande des Feudalismus gesprengt hat, zeigt im Alter bisweilen selbst das Gesicht des Despotismus. Der Siegeszug der Zivilisation brachte den Kolonialismus, der gewaltige Aufschwung von Industrie, Technik und Chemie die Vernichtung unserer natürlichen Umwelt und der Gesundheit.

Aus dem Kampf für die Freiheit und gegen die Sklaverei entstanden neue Ausbeutungsformen und Pro-fitmacherei. Und wieder ist der ein utopischer Schwärmer, der darüber enttäuscht ist.

Er kann die Hände in den Schoß legen und resignierend räsonieren. Er wird in Alkohol oder Drogen flüchten und keinen Finger zur Verteidigung eines unbefriedigenden Systems rühren.

Oder er versucht mit Bomben und Revolver gutzumachen, was die Geschichte - seinem barbarischen Irrglauben nach - versäumt hat. Und jeder dieser möglichen Reaktionen hat ein Sozialdemokrat entgegenzutreten.

Schon früh - nur wenige Jahre nachdem Marx sein Manifest geschrieben hatte - sammelten sich Männer und Frauen, die nicht enttäuscht und nicht entmutigt waren. Es waren Menschen, denen diese neue Gesellschaftsordnung des Kapitalismus das größte Leid zugefügt hatte, die aber genau wußten, daß der Schritt zurück nicht möglich und nicht wünschenswert war.

Sie erkämpfte^ das Recht, Parteien und Gewerkschaften zu gründen, das Recht, zu wählen und zu streiken. Sie schufen das Netz sozialer Sicherheit und politischer Freiheit. Und gegen jeden Versuch, ihnen

auch nur eine dieser Errungenschaften zu nehmen, kämpften sie und starben auch dafür.

Die Fortschreibung der Vergangenheit, erklärte Willy Brandt einmal zu Recht, ergibt noch lange keine Zukunft. Wir können uns daher mit dem einmal Errungenen nicht begnügen.

Aber die in unserem sich ändern-denSystemerrungenenFreiheitendes Wortes und der Tat, der Mitbestimmung und der Wahlmöglichkeit, der Religion und des Gewissens dürfen niemals beseitigt werden. Und ebensowenig Humanität, soziale Sicherheit und Lebensniveau.

Kein Ziel ist es wert, sie beiseite zu schieben - und mag es noch so verheißungsvoll sein. Die falschen Apostel von links und von rechts, die uns das, was wir schon erreicht haben, wegnehmen wollen, um uns zum Licht zu führen, führen uns in Wahrheit nur dahinter.

Durch den Schritt in das Gestern kommt man nicht schneller in ein besseres Morgen. Sozialisten, die sich ihres historischen und damit systemverändernden Auftrages bewußt sind, bekennen sich zur Verteidigung des Verteidigungswerten dieser Gesellschaft.

Verteidigungswert - auch unter Opfern - ist, was die Vermenschlichung der Menschen fördert und in Zukunft mehr Freiheit, mehr Gleichheit, mehr soziale Gerechtigkeit und mehr Solidarität möglich macht.

Weil im Schoß des bestehenden Systems durch einen permanenten Reformprozeß in Zukunft eine humanere und gerechtere gesellschaftliche Entwicklungsstufe erreicht werden kann, gilt es heute das Positive entschlossen zu verteidigen. Aus dem gleichen Grund aber muß im bestehenden System alles das bekämpft werden, was der Durchsetzung der Grundwerte widerspricht.

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