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Die Charta 77 und die Christen

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Jänner 1977, vor sechs Jahren: in der CSSR tritt die Bürgerrechtsbewegung Charta 77 in Erscheinung. Das Prager Regime reagiert beinhart, verhaftet in der Folge die Aktivisten, unter ihnen auch den Charta-Mitbegründer Jiri Lederer. Welche Rolle die Christen in der Charta spielten und spielen, schilderte Lederer unlängst in einem Vortrag.

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Jänner 1977, vor sechs Jahren: in der CSSR tritt die Bürgerrechtsbewegung Charta 77 in Erscheinung. Das Prager Regime reagiert beinhart, verhaftet in der Folge die Aktivisten, unter ihnen auch den Charta-Mitbegründer Jiri Lederer. Welche Rolle die Christen in der Charta spielten und spielen, schilderte Lederer unlängst in einem Vortrag.

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Die Charta 77 trat in das Leben der tschechoslowakischen Gesellschaft in einer Zeit, als das totalitäre Regime, das durch die Ereignisse des Jahres 1968 geschwächt war, wieder in absoluter Weise restauriert war. Die Ereignisse des Jahre^ 1968 wurden nicht durch eine Sehnsucht der KP-Führung nach mehr Freiheit und Demokratie hervorgerufen, wie das manchmal irrtümlich interpretiert wird. Vielmehr war es eine innere Krise der Kommunistischen Partei, die die Kraft zu einer totalen Herrschaft über die Gesellschaft zu verlieren begann.

Für die Atmosphäre der siebziger Jahre, in der die Charta 77 geboren wurde, das heißt für die Zeit der Restaurierung des totalitären Regimes, sind folgende Momente kennzeichnend:

• In Privatwohnungen treffen sich Gruppen von Menschen — Journalisten, Schriftsteller,

Künstler — und diskutieren über

verschiedene Zeitprobleme. Manche dieser Zirkel widmen sich programmäßig der Diskussion, andere — wie etwa der berühmte Zirkel um Prof. Jan Patočka — glichen einem Seminar.

• Anfang der siebziger Jahre begann in der Tschechoslowakei das Samizdat zu erscheinen. Manche nennen es „Selbstbedienung“, um nicht den heute schon international anerkannten russischen Terminus benutzen zu müssen. In dieser Zeit gründete Ludvik Va- culik eine Samizdat-Edition, in der in maschinengeschriebener Form Werke von verbotenen tschechischen Autoren herausgegeben wurden. Danach, vor allem nach der Charta 77, entstanden noch andere solche Editionen sowie eine Reihe von Samizdat- Zeitschriften.

• Gleichzeitig erscheint auf dem Gebiet der Samizdat-Produktion ein neues und in mancher Hinsicht interessantes Phänomen: das religiöse Samizdat. In mehreren Editionsreihen erscheinen Zeitschriften, Sammelbände und Bücher, in der Mehrheit Übersetzungen fremder Autoren.

• In der Tschechoslowakei der 70er Jahre spielten auch einige Exilzeitschriften eine bedeutende Rolle, allen voran „Svedectvi“, „Listy“ und „Studie“.

1 In dieser Zeit wächst auch das Interesse für die ausländischen Rundfunksendungen in tschechischer und slowakischer Sprache, vor allem für die von Radio Freies Europa, Stimme Amerikas und BBC. Viele hören auch die polnischen Programme dieser Sender.

Was die Einflußnahme innerhalb der Bewegung der Charta 77 betrifft, wurden zwei Hauptkräfte sichtbar:

• ehemalige Kommunisten;

• Christen, Katholiken und Protestanten.

Die Existenz dieser beiden Kräfte merkt man bereits bei der Besetzung der Funktionen der

Charta-Sprecher. Verschiedene Einflüsse werden dann auch bei den Themenkreisen der herausgegebenen Charta-Dokumenten zu verschiedenen gesellschaftspolitischen Problemen deutlich.

Von den ehemaligen Kommunisten innerhalb der Charta 77 treten oft Leute an die Öffentlichkeit, die früher als Politiker, Journalisten oder Schriftsteller einigermaßen bekannt waren, denn sie hatten dem kommunistischen Establishment angehört.

Auf der christlichen Seite jedoch stellen sich der Gesellschaft neue, meist ganz unbekannte Menschen vor. Auf zwei von ihnen möchte ich besonders hinweisen: Es sind zwei ehemalige Sprecher der Charta 77, Vaclav Maly und Miloš Rejchrt. Beide sind Priester — der erste ein katholischer, der zweite ein evangelischer und beide dürfen ihren Beruf nicht ausüben.

Aufgrund ihrer Aktivität in der Charta 77 wurden sie zu bekannten Persönlichkeiten im In- und Ausland. In der Bewegung der Charta 77 zeigten sie ihren ausgeprägten Sinn für moralische Verantwortung sowohl ihrem Nächsten als auch der Gesellschaft gegenüber.

Im Zusammenhang mit der Charta 77 könnten wir noch über andere Christen sprechen, etwa über den evangelischen Theologen Jakub Trojan, die evangelische Philosophin Božena Komär- kovä, die engagierte Katholikin Marie Ruth Krizkovä — ursprünglich Literaturwissenschaftlerin, heute Arbeiterin —, über den katholischen Geistlichen Frantisek Lizna und vor allem über die große Persönlichkeit des katholischen Theologen Josef Zvėfina …

Vor einem Jahr bekam ich aus Prag einen Situationsbericht, aus dem ich folgendes zitieren möchte:

Erstes Zitat: „Wir sind auf den Knien. Man wartet auf ein Wunder, daß jemand kommt und hilft… Wir haben unsere Selbstachtung verloren. Die Polen haben Respekt. Es ist niemandem gelungen, sie auf die Knie zu zwingen. Es half ihnen dabei ihr Nationalbewußtsein — ihr Nationalismus und ihr Glaube, ihre Religion. Ein fester Glaube an die gerechte Sache. Ein Glaube an Gott. Sie ließen sich ihren Glauben durch keinen Marxismus-Leninismus nehmen. Sie blieben

treu ihren Vorfahren und deren Glauben…“

Zweites Zitat: „Die Charta 77 ist in einer schwierigen Lage. Wir werden immer weniger, die bereit sind, etwas zu tun. Die Staatssir cherheit konnte in den wenigen Jahren fast überall ihre Spitzel einsetzen Aber trotzdem: un

ter den unheimlich schwierigen Bedingungen ist der Kern der Bewegung immer noch großartig, wunderbar, wenn auch sehr erschöpft, fast todmüde. Am besten daran sind die Kreise der katholischen und evangelischen Gläubigen. Dort befindet sich die größte moralische Kraft. Diese Leute sind nicht verdorben, sie besitzen ihre menschliche, Qualität noch immer. Sie opponieren bereits seit 40 Jahren und sie stellen die einzige Struktur dar, die die Vergangenheit unseres Volkes mit der Gegenwart verbindet. Sonst bricht alles auseinander. In der Rückkehr zum Glauben sehe ich unsere einzige Rettung, die Kraft für die Zukunft“

Das erste Zitat deutet an, welche Rolle im Leben der Tschechen und Slowaken die polnischen Ereignisse und die Polen selbst heute spielen. Wir sind bisher noch nicht in der Lage zu bewerten, was die Wahl eines polnischen Priesters zum Papst der römisch-katholischen Kirche für die Änderung des Denkens und des Empfindens der Menschen in der Tschechoslowakei bedeutete und was für ein Echo sein Besuch in Polen in den Seelen der Tschechen und Slowaken hinterließ. Daß die Wirkung des Johannes Paul II. auf sie konstant und sehr intensiv ist, ist ohne jeden Zweifel.

Die Tatsache, daß ein Papst in den böhmischen Ländern beim Volk so beliebt ist, stellt ein historisches Novum dar. Auch solche Faktoren, die nur scheinbar Randerscheinungen sind, müssen wir in Betracht ziehen, um die heutige Tschechoslowakei zu verstehen.

In den siebziger Jahren wurden wir Zeugen einer Renaissance des christlichen Glaubens in, der Tschechoslowakei. Die Motivation dieser Renaissance ist vielfältig. Bei vielen Menschen stellte der Anfang eine tiefe Enttäuschung über den ganzen realen

Sozialismus dar, eine Enttäuschung über die kommunistische Bewegung, die ein Paradies auf Erden versprach. Bei vielen, vielleicht vor allem bei den jungen Menschen entstand ein Trend zum christlichen Glauben aus einer Opposition dem totalitären Regime gegenüber, das dieReligi- on unterdrückt und gleichzeitig versucht, die Kirche zu seinen machtpolitischen Zielen zu mißbrauchen.

Es ist kein Zufall, daß die Renaissance des religiösen Glaubens parallel - genauer gleichzeitig — mit der Bewegung der Charta 77 in Erscheinung tritt. Dies hat eine innere Logik. Beides stellt nämlich ein neues Phänomen in der tschechoslowakischen Gesellschaft nach 1948 dar.

Der kommunistische Staatsstreich von 1948 bedeutete den Anfang einer der rücksichtslosesten Religionsverfolgungen und gleichzeitig den Anfang einer beispiellosen Unterdrückung der Menschenrechte in unserer Geschichte. In den siebziger Jahren entstanden Kräfte, die sich gegen die Folgen des kommunistischen Staatsstreiches vom Februar 1948 erheben wollen. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß diese geistige und gesellschaftliche Erneuerung von ehemaligen Kommunisten und Christen gemeinsam angestrebt wurde.

Jetzt könnte der Eindruck entstehen, daß ich sowohl die Bedeutung der Charta 77 als auch die Bedeutung der Renaissance des christlichen Glaubens in unseren Ländern überschätze. Angesichts des totalitären Regimes, das mit der kolossalen sowjetischen Macht verbunden ist, scheinen diese beiden Phänomene viel zu schwach zu sein.

Meiner Ansicht nach sind jedoch diese unterdrückten und verfolgten Bewegungen perspek- tiv — ihnen gehört die Zukunft. Dies gerade deshalb, weil sie Ausdruck einer kaum sichtbaren, dafür aber dauerhaften geistigen Veränderung der Gesellschaft sind. Einer Gesellschaft, die lediglich den Schein hat, gleichgültig und passiv zu sein.

Wenn wir die Geschichte des Christentums in unseren Ländern etwa in den letzten hundertfünfzig Jahren betrachten, können wir eine Wende in unserer bisherigen Entwicklung konstatieren. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wuchsen bei uns atheistische und antiklerikale Tendenzen. Die

tschechische Gesellschaft hat die katholische Kirche nicht als einen prägnanten Bestandteil des nationalen Lebens empfunden, wie dies etwa bei den Polen oder auch bei den Slowaken der Fall war.

Nach dem Ersten Weltkrieg trat die erste Tschechoslowakische Republik in das Leben mit der Losung „Los von Rom!“. Es bedeutete „Los vom Katholizismus“, und eigentlich „Los vom Christentum, Los von der Religion“. In einer solchen Atmosphäre wuchs meine Generation auf.

Gläubig zu sein — dies bedeutete ein Einzelgänger zu sein. In die Kirche zu gehen, hieß ein rückständiger Mensch zu sein. Und eine solche Politik setzten eigentlich die Kommunisten nach 1948 fort. Sie zogen nur alle Konsequenzen daraus — mit der ganzen Skala der Verfolgung. Fortschrittlich zu sein, bedeutet die f Religion für das Werkzeug der Reichen zur Unterdrückung der werktätigen Massen zu halten.

In dieser Hinsicht kam es in den siebziger Jahren zu tiefgreifenden Veränderungen in unserem Denken. Trotz der offiziellen Propaganda sehen die Menschen in der Religion nicht mehr etwas Rückständiges. Auch die Nicht- gläubigen fangen an zu begreifen — und in der Charta dies durch Taten zu beweisen —, daß überall dort, wo die Religion unterdrückt und verfolgt wird, gleichzeitig die Menschenrechte verfolgt und unterdrückt werden.

Meiner Ansicht nach stellt die Charta 77 den bedeutendsten Ausdruck des menschlichen Willens zyr Freiheit in der Zeitspanne nach dem kommunistischen Februarumsturz von 1948 dar, von 1968 einmal abgesehen. Die Renaissance des Christentums in unseren Ländern bedeutet einen außerordentlich wichtigen geistigen Impuls in einem breiten historischen Zusammenhang.

Der Autor, Journalist und Buchautor, wurde mehrere Male aus politischen Gründen inhaftiert. Kurz nachdem die Charta 77 an die Öffentlichkeit getreten war, wurde Lederer als einer der Mitbegründer der Bürgerrechtsbewegung im Jänner 1977 verhaftet und wegen „staatsfeindlichen Verhaltens und subversiver Tätigkeit“ zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. 1980 wurde er entlassen und mit seiner Familie aus der CSSR ausgebürgert. Heute lebt Lederer in Bayern.

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