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Die Demokratie des großen Lärms

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„Nach der Welterschaffung besichtigte der liebe Gott sein Werk, auch die Apenninenhalb-insel, und fand, daß sie allzu viele Vorzüge auf sich vereinigte. So korrigierte der Allgerechte die Schöpfung und erschuf die Italiener.“ So die „Italienische Wochenschau“ im September 75.

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„Nach der Welterschaffung besichtigte der liebe Gott sein Werk, auch die Apenninenhalb-insel, und fand, daß sie allzu viele Vorzüge auf sich vereinigte. So korrigierte der Allgerechte die Schöpfung und erschuf die Italiener.“ So die „Italienische Wochenschau“ im September 75.

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Diese merkwürdige Interpretation der Schöpfungsgeschichte ist mehr als ein Bonmot zur Belustigung der in hohem Maße auf Unterhaltung erpichten Italiener. Sie trifft haargenau ein Ur-Empfinden der Nation: daß sie auf dem ganzen Erdenrund im schönsten und vielfältigsten Land lebt, aber alles andere als vollkommen ist. Wenn es ein Volk gibt, das von den Unzulänglichkeiten seiner Eigenart überzeugt ist, so sind es die Italiener. Legen die Franzosen viel Wert auf Esprit, die Engländer auf fair play und Durchhaltevermögen, die Amerikaner auf technische Errungenschaften, die Spanier auf ein würdiges und die Österreicher auf ein liebenswürdiges Verhalten, die Deutschen — und die Deutschschweizer — auf Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit, so drehen manche Italiener den Spieß um und — wenn sie sich überhaupt einen Vorteil zugute halten — so ist es neben der Schönheit ihres Landes das Bewußtsein ihrer eigenen Nachteile. In diesem Land hat jeder — Bauer, Arbeiter, Unternehmer, Papst, Kommunistenführer und Gewerkschaftsboß, Künstler, Wissenschaftler ..., jeder außer Luzifer, seinen Stellenwert. Nicht von ungefähr endete der Sittenprediger Savonarola, der im Land der kleinen und großen Sünder einen Gottesstaat errichten wollte, auf dem Scheiterhaufen.

Haben die Italiener im Ausland eine schlechte Presse, so geben sie in ihren Gazetten über sich und ihre Eigenart noch viel härtere Urteile ab. In Montanellis neuer Zeitung II Giornale Nuovo macht Cesare Zappulli in einem Leitartikel die Probe aufs Exempel:

„Die Arbeitsweise des italienischen Staates erinnert an eine Fuchsjagd, bei der alle Reiter das Augenmerk auf ein einziges Opfer richten. Bevor dieses gestellt und erledigt ist, gibt es keine andere Beute. Diese Reihenfolge wird aber ständig in Frage gestellt durch Druckmittel aller Art: Streiks, Demonstrationen, Aufstände. Ist die Scheidung an der Reihe, verschwinden alle anderen Probleme: Volkswohnungsbau, Spitalreform, Projekte für eine verbesserte Schule, Landwirtschaft, Viehzucht. Sämtliche Ministerien werfen sich auf das Prioritätsproblem des Tages. Entsteht ein großer Lärm um eine andere Frage, sagen wir den unterentwickelten Süden, so lassen alle das erste Problem ruhen und wenden sich dem zweiten zu.

Auf dem Tisch des Ministerpräsidenten häufen sich wertvolle Untersuchungen, die aber erst bei einem Unheil — Überschwemmung, Verkehrsstockung, Schießerei — Beachtung finden. Seit acht Jahren werden die Verwaltungen der Gemeinden, Provinzen, Konsortien und Wohlfahrtsinstitute nicht mehr überprüft, da der Verfassungsgerichtshof die Präfekturräte der Kontrolle entbunden hat. Was Wunder, wenn Gelder verschleudert und willkürlich ausgegeben werden. Da muß ein Bürgermeister mit der Kasse verschwinden, bis die Angelegenheit einen Tag lang beachtet wird.

Derart ist alles der Improvisation überlassen. Die Streiks legen den halben Staatsapparat lahm, der Fiskus nimmt nichts mehr ein. Züge verkehren, wie es den Eisenbahnern, nicht den Fahrgästen beliebt... Sind die Ämter überbesetzt, erzwingen die Gewerkschaften die Auffüllung der Bestände und richten die Arbeitsstunden so ein, daß die meisten noch besonders gut honorierte Uberstunden machen können. Was man der einen Berufskategorie gewährt, darf der anderen nicht vorenthalten werden.

Unter dem Druck eines Generalstreiks verbesserte das Parlament die Altersfürsorge. Was die Not der Betagten nicht erreichte, glückte der harten Sprache junger Gewerkschafter. Die Regierung erwachte aus dem Schlaf, der nicht ein Schlaf der Gerechten, sondern der Schwachen ist. Die Weisheit von Beschlüssen, die lediglich in extremis, unter dem Druck der pressure groups, gefaßt werden, läßt sich leicht absehen. Arbeitnehmervertreter überfluten das Parlament, kontrollieren seine Texte, erzwingen das eine und drohen mit dem andern. Da könnte man gerade so gut auf den Straßen und Plätzen Gesetze machen, je nach dem Beifall oder den Buhrufen der Volksmassen.

Überflüssig, zu erwähnen, daß diese Demokratie des- großen Lärms, der Notsituation und vor allem der Angst die demokratischen Einrichtungen in Frage stellt. Wer nicht über viele Anhänger und keine starke Stimme verfügt, zählt nichts. Die schwache Regierung kann nicht mehr regieren. Es fehlt nicht an Phantasie, sondern am Vermögen, die Zügel fest in Händen zu halten. Die Verfassung überträgt dem Ministerpräsidenten die Macht, die Vorschläge der Minister miteinander in

Einklang zu bringen und die Arbeit des Ministerrates zu bestimmen. Wie die Dinge nun einmal sind, ist die Regierung aber handlungsunfähig. Sie wird gezwungen, unter dem Druck von Geschrei und Stößen, manchmal sogar von Fußtritten, statt zu regieren, bloß zu reagieren.

Wer angesichts dieser trostlosen Verhältnisse annimmt, Italien stehe unmittelbar vor einer Regimekrise und falle dem kommunistischen Moloch gleichsam von selber in den Rachen, übersieht, daß die Italiener ihre harfe Sprache nicht nur auf den Staat, sondern auch auf sich und alles, was in ihrer Mitte geschieht, beziehen. Noch mehr: Erstaunlich viele Italiener spüren, daß die miserable Staatsverwaltung nur eine Art von konzentriertem Spiegelbild eigener Unzulänglichkeit ist. Das größte Mißtrauen der Italiener gegenüber der KPI gilt wohl weniger den geheimen Verstaatlichungsabsichten dieser Partei, als ihrem Anspruch, in Italien einen besseren als den, bisherigen Staat der Christdemokraten zu begründen. Daß in einem kommunistischen Italien die KP-Funktionäre an die Stelle der Priester und der von ihnen Begünstigten treten würden, im Grunde aber alles beim alten, bei der althergebrachten Korruption und Willkür bliebe, glauben im Bewußtsein ihrer nationalen Schwächen Millionen von Italienern. Nur hartgesottene und entsprechend humorlose Genossen sind vom Gegenteil überzeugt und stoßen gerade wegen ihres Sendungsbewußtseins bei den so oft enttäuschten und doch nie entmutigten Italienern auf Widerstand.

Kleines Schlaglicht auf den comu-nismo all'italiana: die Behauptung, daß er mehr italienisch als kommunistisch sei, muß als sehr verfänglich bezeichnet werden. Sozusagen alle Italiener sind überzeugt von der eigenen Fähigkeit, aus allem, aber auch aus dem Kommunismus etwas Besonderes zu machen, etwas Menschliches, weniger Gefährliches, kurzum eben etwas Italienisches. Daß diese Ansicht nicht nur von Nicht-Kommunisten, sondern auch vom Führungskorps der KPI vertreten wird, sogar noch mit dem Anspruch, daß Rom nach Moskau und Peking die dritte Kapitale des Weltkommunismus, das Zentrum einer die individuelle Freiheit schützenden, die pluralistische Mehrparteiengesellschaft gewährleistenden und sogar das Privatkapital weitgehend in Ehren haltenden Ordnung sein werde, stellt über Italien hinaus für die ganze westliche Welt die besondere Gefährlichkeit des italienischen Kommunismus dar.

Noch ist Italien nicht verloren

Die Italiener stehen nun vor der großen Frage, ob sie der Aussicht auf einen völlig neuartigen humanen Kommunismus mehr als der Einsicht der inhärenten Sachzwänge jeder kommunistischen Ordnung vertrauen sollen. Die Weltgeschichte zeigt mit erstaunlicher Deutlichkeit, daß jeder „ismus“, einmal zum tragenden Gesellschaftssystem erhoben, einem gewissen Mechanismus folgt, den er — allen veränderten äußeren Umständen zum Trotz — nur variieren, nicht aber umstoßen kann. Das gilt für die wichtigen Sozial-und Wirtschaftssysteme des Kapitalismus und eben auch des Kommunismus.

Es war die große Illusion gewisser Konzilsbeobachter aus nördlichen Ländern, nicht zuletzt eines Hans Küng, daß sie meinten, mit dem aggiornamento unter dem neuen Papst könne die Kirche über eine einzige große Kirchenversammlung der Bischöfe und Kardinäle aus aller Welt gleichsam von einer historischen Stunde zur anderen etwas völlig anderes werden. Auffallenderweise hegten die tausendmal gewitzten Italiener viel weniger solche utopistische Vorstellungen, hörten sich zwar gerne an, was Johannes XXIII. und die von ihm Protegierten sagten, vergaßen aber darüber nicht, was früher Pius XII. und später Paul VI. erklären mußten. Dieses alte Kulturvolk läßt sich leicht für die Auseinandersetzung eines Fußballspieles, kaum hingegen für Politik, den ideologischen Kampf um eine bessere Welt, begeistern. Es weiß, daß das, was in den Augen junger Völker Markstein und Aufbruch zu einer neuen Welt zu sein scheint, bald nur noch den Charakter einer Episode trägt, daß nirgends, und am wenigsten in Rom, die Bäume in den Himmel wachsen und daß das vielleicht sogar gut ist.

So besteht denn Grund zur Hoffnung, daß die Italiener den Kommunismus abgeschrieben haben, bevor er die Macht im Staat ergreifen kann und nicht mehr losläßt, weil auch der italienische Kommunismus die kommunistische Doktrin nicht derart verändern kann, daß er die einmal errungene Entscheidungsgewalt wieder auf demokratischem Wege freigeben könnte. Was 1918 in Rußland, 1948 in China, 1953 in Ostdeutschland, 1956 in Ungarn, 1948 und 1968 in der Tschechoslowakei, und wohl auch jetzt in Portugal geschehen ist: daß der Kommunismus die Macht als Einbahnstraße begreifen muß, gibt den auf ihren Vorteil sehr erpichten Italienern vielleicht doch mehr zu denken, als es gewisse politische Beobachter wahr haben wollen.

Wer beispielsweise annimmt, Italien könne zugleich geordnet werden und Phantasiereichtum, Vitalität und jene elektrisierende Betriebsamkeit bewahren, die all die Touristen aus dem Norden Jahr für Jahr drei Wochen lang fasziniert, erweist sich als naiver Utopist. Er meint, der eine kulturelle Bestandteil könne ohne sein Gegenpart bestehen bleiben. Wie vermöchte der Italiener ohne Chaos und scheinbare Ausweglosigkeit sein großes Impro-visations- und Arrangiarsi-Vermö-gen, seinen Einfallsreichtum und Erfindertrieb zu erproben? Dies nicht zuletzt in Wirtschaft und Industrie, im Italian Design, in der Mode und im Film, überall, wo nicht nur Nutzen und Efficiency, sondern auch Reizwirkung, Schönheit und Gefälligkeit zählen.

Bei Berücksichtigung aller Verhältnisse ist die Gesamtheit Italiens und der Italiener gar nicht so schlecht, wie es Zappulli in seiner einseitigen Buchhaltung vermuten läßt. Das Bewußtsein der eigenen Unvollkom-menheit wiegt manche Schwächen auf und verleiht eine besondere Art von Vollkommenheit. Es öffnet die Herzen und läßt Andersartiges leben, wo sonst im Anspruch auf eigene Vorzüglichkeit dem Fremden kaum Verständnis entgegengebracht wird. Italien zeigt, daß man auch nach anderer Fasson selig werden kann, ja gerade im „Leben und leben lassen“ auf eine besondere Weise, wie Zehntausende die Apen-ninenhalbinsel bewohnende Ausländer, die inneren Zugang zu diesem Volk gefunden haben, versichern und wie es Indro Montanelli in dem Satz zusammenfaßt:

„Es ist vielleicht keine besondere Ehre, wohl aber ein großes Vergnügen, Italiener zu sein.“

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