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Die Dentisten ohne Bohrer

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Die Regierungsparteien bekommen Angst vor dem Mut zu notwendigen Entscheidungen. Die Politik will auch dann gefällig sein, wenn sie nur mehr Opfer zu verteilen hat.

Eine Mehrheit von 85 Prozent wählt eine Koalition, die das Land sanieren und erneuern soll. Die Regierungsparteien gehen davon aus, die Sanierung sei schon deshalb zu schaffen, weil die notwendigen Entscheidungen letztlich alle Bürger (alle Gruppen) schmerzhaft treffen: Der Umstand der Opfergleichheit sei die eigentliche Chance für die Wende.

Was auf den ersten Blick noch paradox erscheint, ist gerade aus

dem Blickwinkel der allgemeinen „Neidgenossenschaft“ nicht ohne Witz: Das eigene Opfer würde lieber angenommen, wenn auch die Nachbarn mindestens genauso stark zu leiden hätten.

De facto bleibt der Ansatz trotzdem paradox, weil die Entscheidungsfindung in einer Demokratie öffentlich sein muß und weil jedermann den „Zahnarzt-Trick“ kennt: am besten klagt man schon, bevor es wehtut.

Jetzt jammern alle. Und weil die Regierungsparteien wiedergewählt werden wollen, bekommen sie Angst vor dem Mut. Jeder zeigt sich der eigenen Wählerschaft gegenüber als braver Dentist und verspricht, bei den eigenen Gruppen ein bißchen weniger zu bohren. Dann spricht die Presse von

der Koalition im Koma — und Österreich wird unregierbar.

In Fortsetzung des Bonmots, daß viele den Status quo auch dann noch verteidigen, wenn das quo seinen Status schon längst verloren hat. Die Politik will eben auch dann noch gefällig sein, wenn sie nur mehr Opfer zu verteilen hat.

Ein zweites Beispiel aus der aktuellen politischen Diskussion: Als die Gemeinderäte erfahren, daß in den Grenzen der Gemeinde eine Sondermüll-Deponie errichtet werden soll, verfallen sie mit der ganzen in Mitleidenschaft gezogenen Ortschaft in Volkszorn. Vor allem die als Gemeindepolitiker tätigen Lehrer - eine Seuche der Volkspartei — erweisen sich (wieder einmal) zu jeder Sachlichkeit unfähig. Ein solcher Lehrer wirft dem für die Durchführung der Entscheidung zuständigen Landespolitiker vor, er habe ihm die Staatsbürgerschaft gestohlen, hier herrsche eine

Scheindemokratie wie jenseits der Grenze…

Demokratie 1987 beruht auf dem „Floriani- Prinzip“ und ist gegenüber dem Gemeinwohl regelmäßig kontraproduktiv. Der Weg zum Gemeinwohl führt ja bekanntlich stets über den Grund des Nachbarn.

Wer sich klassischen Befunden anschließt, Demokratie sei vor allem Diskussion, muß nun erklären, wie man trotzdem zu Entscheidungen kommt. Werdas Einverständnis

aller verlangt, will die Anarchie.

Das Problem ist einfach zu beschreiben: Wir wollen wirksame Entscheidungen - wir wollen mitentscheiden. Einfacher ausgedrückt: Wo bleibt die Regierung? - Gegen uns darf nicht regiert werden.

Wer den Grundsatz bejaht, daß die „Betroffenen“ auch dann ein Recht auf Gehör und Mitbestimmung haben, wenn es um Fragen des Ganzen, also des Gemeinwohls geht, hat das Problem zu lösen, wie man die Republik vor einer Diktatur der Minderheiten schützt.

Der Grundsatz ist insofern zu bejahen, als der Weg zum Gemeinwohl auch nicht am Volk vorbeiführen kann. Der Weg zum Gemeinwohl darf sich aber auch nicht im Nirgendwo verlaufen. Sonst geht die Republik, gehen die res publicae in Konkurs.

Während es bei Eingriffen in Eigentumsrechte rechtsstaatliche Verfahren gibt, sind solche bei der Verfügung über allgemeine Güter nicht vorhanden. Aber auch bei Maßnahmen, die einen Teil der Allgemeinheit treffen, muß die Interessenabwägung nachvollziehbar sein.

Also sind neue Maß stäbe und Spielregeln gefragt, um solche allgemeinen Entscheide zu legitimieren. Schließlich muß ja in der Folge gewährleistet sein, daß der Vollzug geduldet wird.

An einer Diskussion darüber besteht ein dringender Bedarf: Volksherrschaft ohne Volk ist ebenso denkunmöglich wie eine Politik, die Probleme nur bespricht, aber nicht löst, also eine Politik, die keine Maßnahmen setzt und auf Gestaltung verzichtet.

Demokratie ist nicht nur, aber auch eine Frage der Mehrheit: Wenn die Mehrheit nicht hinnehmen will, daß Undefinierte Minderheiten — wer sich jeweils „betroffen“ zeigt — alles verhindern, muß sie eben Problemlösungen fördern, die „sozialverträglich“ sind.

Wir haben also zwei offene Fragen: Wie ist Gemeinwohl überhaupt noch durchzusetzen? Und: Wie kann man dem Anspruch auf Mitbeteiligung entsprechen?

Dies ist zugegeben ein Thema „gegen den Zeitgeist“ . Gerade deshalb ist seine Behandlung unerläßlich.

Der Autor ist Angestellter der oberösterreichischen Handelskammer und beschäftigt sich in erster Linie mit Sozialpolitik und grundsatzpolitischen Fragen.

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