6842876-1976_01_13.jpg
Digital In Arbeit

Die Diskrepanz zwischen Literatur und Wirklichkeit

Werbung
Werbung
Werbung

Ich soll also über das Thema, welches Buch aus der traditionellen Literatur mich beeinflußt beziehungsweise nicht beeinflußt hat, zwei Seiten schreiben. Sicher haben mich Bücher beeinflußt, die Vorkommnisse im „Henker von Paris“ mehr als ein Heimatroman, in dem zwei Kärntner Bauernburschen sich an einem Samstagabend in einem Graben treffen, um im Zweikampf dem von beiden geliebten Mädchen die endgültige Entscheidung, welchen es nehmen soll, zu erleichtern. Beide Bücher las ich zu einer Zeit, als ich mich mindestens zur Hälfte in einer bäuerlichen Umgebung befand, als mein Sprechvermögen zur Not Handlungsabläufe zu erfassen vermochte, als meine Einstellung zur übergeordneten Gesellschaft negativ war, beispielsweise konnte ich mir einfach nicht vorstellen, was ein Mensch, der ein halbes Leben lang in Schulhallen herumgesessen war, als Abgeordneter für Werktätige tun könnte, außer Steuergelder verleben? Ich wußte auch nichts von der Geschichte. Ich war also nicht irgendein Leser, sondern ein von verschiedenen Faktoren bestimmter, folglich auch nur begrenzt beeinflußbar.

Daß ich überhaupt und früh zu lesen anfing, war zufällig, zumal ic\-in ein Haus kam, in dem viel geleser wurde. Da ich, bedingt durch meine Entwicklung beziehungsweise Verwicklung, für meine Umgebung ein sogenannter Außenseiter war und' mich diese Umgebung obendrein auch noch entsetzlich langweilte, fing Ich an, zu lesen. Im Gegensatz zu der Annahme, daß auf Grund meiner Herkunft ein Heimatroman für mich das richtige Buch wäre, interessierte mich diese Art von Literatur überhaupt nicht, denn was da beschrieben war, hatte mit dem, wie ich Heimat erfahren hatte, nämlich eine Unheimat, nichts zu tun. Da mir andere Bücher zur Verfügung standen, deren Lektüre mir jedoch Schwierigkeiten bereitete, griff ich zu diesen, las über Begriffe, die ich nicht verstand, über Gedankengänge, die ich nicht verstand, hinweg, eine andere Möglichkeit, mich an Literatur heranzumachen, hatte ich nicht.

Dann war es nicht irgendeine Literatur, sondern die Literatur, die von Buchgemeinschaften vertrieben wird. Da ich mit dem Namen der Verfasser nichts anfangen konnte, mit den Buchtiteln auch nichts, mußten die Bücher für mich ausgewählt werden, dabei stand zunächst die Lesbarkeit des Textes im Vordergrund. Die Auswahl besorgte eine Frau, die die Menschen in erster Linie nach ihrer Kritikfähigkeit beurteilte, die nicht stumme, unwissende Menschen um sich haben wollte. Nach jedem Buch, das ich gelesen hatte, wollte sie von mir wissen, wie das Buch auf mich gewirkt hatte, um ungefähr einschätzen zu können, welche Bücher mich zum Weiterlesen überhaupt motivieren würden. Ich wurde dann ziemlich schnell zu einem begeisterten Leser, ich entdeckte in der Literatur eine angenehmere Welt, es kamen da keine oder kaum arbeitende Menschen vor, keine eingeschüchterten Existenzen, keine Banalitäten, alles in allem, schien es mir in der Literatur, als verliefe das Leben in ihr um vieles logischer als im täglichen Leben.

Aber je mehr ich las, um so öfter eckte ich dann auch durch die Literatur an die Wirklichkeit an, mit der ich nichts zu tun haben wollte, weil die Wirklichkeit für einen Arbeiter so kompromißlos ist. Freilich las ich da schöne Romane, aber während ich las, schaute ich oft auf die Uhr, um zu sehen, wieviel Stunden mir noch zum Schlafen blieben, meinen Helden ging es vielfach besser, sie verfügten über Geld und Zeit, ich brauchte meine Zeit zum Arbeiten, meine Helden verfügten über sicheres Auftreten, ich fühlte mich schuldig, wenn ich anstatt um sieben erst um acht allein über einen großen Hof auf den Firmeneingang zuschritt, meine Helden verfügten über eine ausgefeilte Sprache, ich durfte nicht frei von der Leber reden, weil mich die Firma naturgemäß sofort durch einen anderen Arbeiter ersetzt hätte. Sicher haben mir Bücher die Augen geöffnet, aber den Mund öffne ich nun selber ...

Mit Genehmigung des Residenz-Verlages, Salzburg

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung