6969237-1985_24_07.jpg
Digital In Arbeit

Die Distel ohne Stacheln

Werbung
Werbung
Werbung

Alle Widersprüche sind in ihrem Wesen nach Treibkraft der Entwicklung - lediglich ungeeignete Bewegungsformen bringen negative Wirkungen hervor und hemmen die Entwicklung” (Dialektik des Sozialismus, Berlin 1982).

Für die staatlich akzeptierten Nestbeschmutzer des Berliner Kabaretts „Die Distel”, Direktor Otto Stark darf sich gleichermaßen als Bürger des deutschen Arbeiter- und Bauernstaates und unserer Alpenrepublik fühlen, ist dies das Motto im laufenden Programm. Diepfeffrigen Sentenzen, die auf den staatseigenen Brettern am Bahnhof Friedrichsstraße zum besten gegeben werden, sind gerade scharf genug, um dem Publikum als Ventil zu dienen, aber immer so gewürzt, daß sie sozialistischem Fortschrittsmägen bekömmlich sind.

Das Publikum: Es steht vor der Kasse geduldig und oftmals erfolglos Schlange. Gut zwei Jahre im voraus ist „Die Distel” ausverkauft, busweise und bevorzugt werden Brigaden aus allen Teilen der DDR herangekarrt, um einen Abend herzlich lachen zu können. Und vergnüglich ist es, letzlich im Bewußtsein, sich in „Die Distel” statt in die Nesseln zu setzen.

Da tritt er auch schon auf, der Widerspruch zwischen Sein und Schein: „Ich gedeihe erfolgreich im Schatten so mancher Erfolgsmeldungen.”

Erfolge kann die DDR vermelden: Dem offiziellen Planerfüllungsbericht zufolge wurde 1984 ein Wirtschaftswachstum von 5,5 Prozent erreicht, auch 1985 wird mit einer kräftigen Expansion gerechnet.

Das Publikum widerspricht durch Beifall, wenn Fehlplanungen und Mängel in der Versorgung aufs Korn genommen werden. Nur wenige Hände wirken gelähmt, einzelne Gesichter erstarren.

„Wir wissen ja alle, daß Widersprüche uns weiterhelfen - zumindest in eine andere Abteilung.” Was kritisch klingt, hat durchaus erzieherischen Unterton.

Widersprüche gibt es in Fülle, aber an Widerspruchsgeist mangelt es: darin liegt der Unterschied. Und der deutsche Arbeiter- und Bauerhstaat versteht es, mit Widersprüchen zu leben, aber Widerspruchsgeistern das Leben schwer zu machen. Das macht den einfachen DDR-Bürger wenig mitteilungsfreudig, läßt ihn zurückhaltend erscheinen.

Anders offizielle Gesprächspartner, etwa ein junger Vertreter in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald, dem ehemaligem KZ auf dem Ettersberg

über Weimar: 56.000 Tote Hitlerdeutschlands klagen an - aber alle, die dieses Tausendjährige Reich und seine Schreckensherrschaft gebilligt haben.

Weimar war eine der braunsten Hochburgen. Heute verleugnen die Söhne diese Väter, blenden dieses Stück Vergangenheit aus ihrer Geschichte aus. Vergangenheitsbewältigung?

Geschichte wird selektiv behandelt, die DDR versteht sich als das Ergebnis des jahrhundertelangen Ringens aller progressiven Kräfte des deutschen Volkes für den gesellschaftlichen Fortschritt. Da werden — wie auch im deutschen Geistesleben — die Rosinen herausgesucht. , ”„Alle Widersprüche sind in ihrem Wesen nach Quelle und Treibkraft der Entwicklung - lediglich ...”

Selbstverständlich gibt es Religionsfreiheit, Staat und Kirche sind getrennt.

Der Staat sagt, er sei im Besitz der Wahrheit: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.”

Daher ist das staatliche Erziehungsprogramm atheistisch. Und das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands hat sich auf weltanschauliche Erziehung eingeschworen: Heranbildung zu kommunistischen Persönlichkeiten...

Niemand weiß bis heute, was darunter zu verstehen ist: Das ZK der. SED bleibt seit eineinhalb Jahren Erläuterung und Definition schuldig.

Der Glaube an den Allmächtigen gegen eine allmächtige Lehre? Ein Widerspruch, der sich nicht fürs Kabarett eignete. Ein Widerspruch teilweise auch zwischen Elternhaus und Schule.

Von den rund 18 Millionen Bürgern der DDR gehören etwa acht Millionen evangelischen Kirchen an, 1,2 Millionen zählt die katholische Kirche, an die 200.000 bekennen sich zu anderen Religionsgemeinschaften.

Suche nach Lebens-Sinn

Wie können die Kirchen mit dem Widerspruch leben? Sofort zitiert ein evangelischer Pastor wortgetreu die Erklärung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR aus dem Jahr 1971: „Wir wollen nicht Kirche gegen, nicht Kirche neben, sondern im Sozialismus sein” — eine Position, die von der katholischen Kirche im Land nicht geteilt wird.

Erst im Mai hat Kardinal Meisner bei einem Festgottesdienst für Jugendliche in der Ost-Berliner St. Hedwigs-Kathedrale gepredigt, Christsein „beginnt mit nein sagen”. Christus wolle nicht Mitläufer, sondern Zeugen.

Religionsfreiheit in der DDR, das ist Kult- und Liturgiefreiheit, nicht mehr. Glaubensfreiheit gibt es, so frei, daß für jene, die aus ihrem Bekenntnis kein Hehl machen, Benachteiligungen in der sozialistischen Gesellschaft absehbar sind.

Was ein evangelischer Gesprächspartner diplomatisch verniedlicht, wird von katholischen Kreisen offen ausgesprochen: Hinter einem scheinbar problemlosen Verhältnis auf der offiziellen Begegnungsebene zwischen Staat und Kirche verbirgt sich zunehmender Druck auf den einzelnen. )

Viele junge Menschen lassen sich dadurch nicht abschrecken. Die Suche nach dem Sinn des Lebens, aber auch nach einem Ort des offenen und kritischen Gesprächs führt sie in die Kirchen. Etwa: Sie sagen nicht nur Frieden, sie meinen ihn auch.

Auch in den evangelischen Kirchen hat das Gespräch über Fragen des Friedens eine Eigendynamik entwickelt, mit der die „Kirche im Sozialismus” nicht gerechnet hat. Widerspruch wird in diesen Fragen sehr schnell als Opposition gegen den Staat empfunden.

Denn die Machtverhältnisse sind unzweideutig. Weshalb die DDR-Bürger über die Macht-Frage im Staat herzlich lachen dürfen: „Wer was macht?” sei die eigentliche Frage, scherzt man im Kabarett. Spott für die Bürokratie als Schutzschirm für die Ideologie.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung