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Die Doppelstrategie des Kardinal Wyszynski
Als ein Reporter des dänischen Fernsehens vor kurzem Lech Walesa interviewte und ob der kargen und oft widersprüchlichen Aussagen des Gewerkschaftsführers in geistige Atemnot kam, schoß er auch die Frage heraus: „Warum machen Sie das alles?“
Die Antwort Walesas: „Für die Gottesmutter, für die Königin Polens.“
Diese Antwort, die vermutlich echte, naive Gläubigkeit und politische Schläue gezeugt haben, paßt in das allgemeine Schönbild jenes katholischen Polen, wo Kruzifixe, Papst- und Marienbilder neuerdings nicht nur die Betriebe und Kohlenzechen, sondern auch die Büroräume der neuen Gewerkschaft „Solidarität“ schmücken.
Die im Westen geradezu exotisch anmutende Verflechtung von Religiosität und Patriotismus schien sich auch in das Polen der „Erneuerung“ nahtlos hinübergerettet zu haben, der enge Kontakt zwischen Kirche und gläubiger Arbeiterschaft schien nun unter besseren äußeren Bedingungen fortgesetzt zu werden.
Die Vermutung, daß dem so sei, wurde und wird auch dadurch genährt, daß der polnische Katholizismus ja ganz unzweifelhaft bisher eine ganze Reihe von Vorteilen aus der Arbeit und dem Kampf der Gewerkschaften gezogen hat.
• Die Forderung nach Übertragung von Gottesdiensten durch die Massenmedien, von den Streikenden in Danzig erhoben und schließlich durchgesetzt, . beschert der Kirche etwas, worum sie jahrelang vergeblich gerungen hatte.
• Die de-facto-Lockerung der Zensur, die durch eine bereits arbeitende gemischte Kommission dieses Jahr noch eine de-iure-Form erhalten soll, wird auch dem katholischen Pressewesen entscheidend nützen.
• Auch die in der Danziger Vereinbarung gegebene Zusage, daß bei der Besetzung von Führungspositionen künftig die fachliche Qualifikation und nicht die ideologische Beckmesserei entscheidend sein soll, kommt einer alten Forderung der Kirche - nämlich Aufhebung der beruflichen Diskriminierung für aktive und bekennende Katholiken - nach.
• Schließlich bespricht die nach den AugusPagen institutionalisierte gemischte Kommission von Kirche und Staat bereits nicht nur technische und
punktuelle Probleme, sondern seit Dezember auch die Möglichkeit, der Kirche als öffentlich-rechtliche Körperschaft einen juristisch verankerten Platz in Volkspolen zu geben. Dies ist eine Forderung, die Kardinal Stefan Wyszynski einst als eine „conditio sine qua non“ für die Normalisierung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Polen bezeichnet hatte.
Die Kirche hat all diese Vorteile genutzt, ohne dafür einen riskanten Einsatz wagen zu müssen.
Im Gegenteil - sie hat von den Augusttagen bis heute eine deutliche Doppelstrategie eingeschlagen:
• Verbale Ermunterung der Gewerkschaft, eine allgemein gehaltene Unterstützung ihrer Ziele und den Versuch einer Einflußnahme, sei es durch direkte Kontakte zwischen dem Kardinalprimas und der Gewerkschaftsspitze, sei es indirekt über die aus den katholischen Klubs und Organisationen kommenden Berater der „Solidarität“.
Parallel dazu hat sich die katholische Kirche Polens aber stets und von Anfang an als eine verantwortungsvolle, stabilisierende, über das Tagesgeschehen hinaus denkende Kraft empfohlen. Dies reichte von der zur Mäßigung ratenden Predigt von Wyszynski am 15. August 1980 in Tschenstochau über die Treffen zwischen Primas und Parteichef Kania bis zur letzten, zur Arbeit mahnenden Dreikönigsansprache des Kardinals.
In dieser politisch durchaus legitim erscheinenden Doppelstrategie sind der Kirche allerdings auch taktische Fehler unterlaufen, die noch größere Konsequenzen haben könnten.
• Im Bemühen, sich als Hort der Besonnenheit in kritischen Tagen zu zeigen und nicht vorbehaltlos auf den dahinrasenden Zug der „Erneuerung“ aufzuspringen, muß heute Polenskatho- lische Kirche ein bisher unbekanntes Phänomen verkraften: Die „Basis“, katholische Arbeiter- und Bauernschaft, sowie auch der niedrige Klerus verweigern in der Praxis immer öfter der kirchlichen Hierarchie die Gefolgschaft.
Es sind heute oft Priester, die zu Initiatoren oder wertvollen Helfern bei der Organisierung der Bauerngewerkschaften werden, womit ein neuer, schwerwiegender Konflikt am Horizont erscheint, der durchaus nicht im Sinne der Kirchenführung liegt.
Auch in den katholischen Klubs und bei der Intelligenz beginnt sich eine deutliche Absetzbewegung vonder Hierarchie bemerkbar zu machen, die symbolhaft etwa zum Ausdruck kommt, wenn der Chefredakteur der christlichsozialen Monatschrift „Wiez“, Tadeusz Mazowiecki, nun das neue Gewerkschaftsblatt übernimmt.
• Ein weiterer taktischer Fehler war sicherlich, daß die Kirche sich den angebotenen Umarmungen der Staatsund Parteimacht - um erhoffter Verbesserungen ihrer Situation willen - etwas zu bereitwillig ausgeliefert hat.
• Ein taktischer Fehler war es auch schließlich, daß der Episkopatssprecher Orszulik im Namen der Kirche sich in einer in dieser Form unnötigen und zu schroffen Art von der „antisozialistischen Opposition“, die um Jacek Kuron und Adam Michnik gruppiert ist, distanzierte.
Wer um die tiefe menschliche Solidarität zwischen der „antisozialistischen Opposition“ und großen Teilen der Gewerkschaftsführung, trotz aller grellen politischen Differenz weiß, wundert sich nicht, daß die Kirche später die Angriffe auf die sogenannten Regimekritiker offiziell zurückzog.
Auch wenn es wahr ist, daß sowohl im Klerus als auch im Episkopat ein erstaunlich breites Meinungs- und Handlungsspektrum gegenüber den neuen politischen Prozessen in Polen herrscht, so trägt die angewandte Dop
pelstrategie der Kirche doch eindeutig die Handschrift Wyszynskis.
Sie ist von der Erfahrung eines jahrzehntelangen Kampfes geprägt, der sich stets zum Ziel setzte, unter den gegebenen Umständen von „Zeit und Ort“, also aus der geopolitischen Lage, bei Wahrung eigener Interessen und der der Nation, im System integriert, dem System aber eben deswegen geduldig Kompromisse abringend, der Kirche Lebensmöglichkeit im sozialistischen Polen zu bieten.
Von dieser „Wyszynski-Linie“ ist einst auch Wojtyla in Krakau geprägt worden. Und es gibt mehr als zwei Dutzend handfeste Indizien, daß er als Johannes Paul II. in Rom auf der „Wyszynski-Linie“ geblieben ist.
Der Elektromonteur Walesa und der Theologieprofessor Wojtyla sind sicher beide glühende Patrioten des polnischen Vaterlandes, gottesgläubige' Männer und Marienverehrer, wollen beide das Beste für ihre Heimat - und doch müßte es eigentlich Differenzen und Nuancen in der konkreten Konzeption dessen geben, wie es in Polen weitergehen soll.
Aber das wird kaum zur Sprache kommen, und wenn, dann nicht bekannt werden.
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