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Die Drakensaat

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Pernegg an der Mur liegt an der Bahnstrecke Wien-Graz, zwischen Bruck an der Mur und Frohnleiten. In Pernegg gibt es ein Renaissanceschloß, eine Burgruine, gepflegte Wanderwege, einen Klettergarten, eine Felsenklamm und eine Wallfahrtskirche; der Werbeprospekt versichert, das Dorf sei „fesch bei-nand“. Ein Ort, um sich zu erholen, ein Ort, an dem die strapazierten Nerven eines Großstadtbewohners sich beruhigen könnten - aber ich wollte trotzdem nicht nach Pernegg, ich wollte nach Belgrad, und weil ich, aus Sicherheitsgründen, nicht besonders gerne fliege, nahm ich den Zug.

Der Zug hieß Slavia, er verließ Wien kurz nach achtzehn Uhr und sollte in Belgrad kurz nach sieben Uhr früh ankommen, der melancholisch blickende Schlafwagenschaffner wies mir mein Abteil zu, es war bequem, ich genoß die Fahrt über den Semmering, dann legte ich mich auf mein Bett, noch in den Kleidern, in Spielfeld waren die Grenzkontrollen zu erwarten.

Expreßzüge ignorieren den Bahnhof von Pernegg, wenn nicht etwas Außergewöhnliches passiert; diesmal passierte es. Der Schaffner trommelte aufgeregt an die Tür meines Abteils, ich erhob mich erschrocken, stellte fest, daß der Zug angehalten hatte, öffnete die Tür, der Mann war bleich, sein schwarzer Schnurrbart zitterte, zwei Sprachen gerieten ihm durcheinander, ich begriff trotzdem: wir müßten sofort den Waggon verlassen, eine Bombe sei im Zug versteckt, „leider“, er zuckte mit den Schultern, schnell, schnell, ehe sie vielleicht am Ende jetzt schon explodiert.

Das Gepäck mußte im Zug bleiben, aus allen Türen kletterten erschrockene Fahrgäste, versammelten sich vor dem winzigen Stationsgebäude, eine Schar junger Polizisten war plötzlich da, todesmutig bestiegen sie die Waggons, durchsuchten sie gründlich, blickten unter die Bänke, hinter die Klosettmuscheln, in Abfallbehälter, öffneten vielleicht auch verdächtige Gepäckstücke, leuchteten mit Lampen hinter die Räder; ein gefährlicher Beruf. Dann mußten Koffer und Taschen aus dem Zug geholt werden, noch einmal wurde durchsucht, gründlich, das muß man sagen, aber Leute, die Bomben legen, haben Phantasie, wie man leider weiß.

Die Luft von Pernegg ist sehr gut, ich kann das bestätigen, ich habe sie eine Stunde lang geatmet. Von den bewaldeten Hängen wehte mir Waldgeruch entgegen, Harzgeruch, Kinderferien-sommergeruch.

Frisch ist die Luft von Pernegg, man könnte sich hier gut erholen, dachte ich, wie kam ich eigentlich dazu, vielleicht doch mit einer Bombe weiterzureisen, zum Teufel mit allen Terminen, es nützte ja auch niemandem, wenn ich sie gar nicht mehr einhalten konnte, weil ich unterwegs, irgendwo zwischen Graz und Belgrad, zu Tode gekommen war, als unschuldiges Opfer irgendeines Wahnsinnigen und meines Berufs. Wäre ich nur geflogen, dachte ich, es wäre wahrscheinlich sicherer gewesen.

Unsicherheit und Ärger machen mich meistens hungrig, ich erblickte einen Automaten mit Süßwaren im winzigen Wartesaal, warf eine Münze hinein und entnahm ihm eine Packung Haselnußschnitten, hörte den Stationsvorstand telefonieren. Der Anrufer sei männlich gewesen, seine Stimme „angenehm“, nein, nicht aufgeregt, sondern beherrscht. Der Text? Im Slavia sei eine Bombe versteckt, man fordere den Rücktritt von Landeshauptmann Krainer.

Der Drache ist ein ekelhaftes, wurmartiges Fabeltier, Sinnbild des Chaos vor der Weltschöpfung im Alten Testament, auch und vor allem Sinnbüd für das Endzeit-Chaos in der Apokalyptik. Vielleicht ist es der Name, der Bürger unseres Landes dazu bringt, aus der Angst zum großen Teil harmloser Reisender Kapital für den Streit um die Stationierung eines ebenfalls eher harmlosen Flugzeuges zu schlagen. Wäre die Bombe tatsächlich vorhanden gewesen, hätte man sie bei der Durchsuchung nicht gefunden. wäre sie irgendwo auf der Strecke nach Belgrad tatsächlich explodiert, wäre ich dann ein Opfer der Flugplatzanrainer von Graz-Tha-lerhof und Zeltweg, irgendwelcher Gegner des steirischen Landeshauptmannes oder nur eines einzelnen Wahnsinnigen gewesen?

Ich habe in dieser Nacht im Zug schlecht geschlafen, ich kam übernächtigt und müde in Belgrad an. Daheim in Wien schlug ich im Lexikon nach, fand unter Drake das Wort Drakunkulose, las, dies sei eine Erkrankung, hervorgerufen durch den Medien' wurm. Erst als ich meine Brille geholt und aufgesetzt hatte, berichtigte ich, nach nochmaligem Lesen, den unverzeihlichen Fehler. Es ist natürlich der Medinawurm, der diese Krankheit hervorruft.

Der Stationsvorstand von Pernegg wird diese Nacht wahrscheinlich längere Zeit nicht vergessen. Den Inhalt des Süßwarenautomaten sollte er erneuern lassen, die Haselnußschnitten waren verschimmelt, in meiner Aufregung hatte ich das jedoch erst bemerkt, nachdem ich die Hälfte davon gegessen hatte. Vielleicht war mir davon später so schlecht.

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