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Die Einheit aus der Vielfalt

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Gibt es eine österreichische Nation? Wie kann sie ihre Aufgaben bewältigen? Ein Symposion über das 18. Jahrhundert forschte nach den Wurzeln und zeigte Wege in die Zukunft.

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Gibt es eine österreichische Nation? Wie kann sie ihre Aufgaben bewältigen? Ein Symposion über das 18. Jahrhundert forschte nach den Wurzeln und zeigte Wege in die Zukunft.

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Die Frage, was der Österreicher eigentlich sei, ist ein heute immer wieder heiß diskutiertes Thema.

Es sei nur an drei Bücher erinnert, die kurz hintereinander erschienen und wesentliche Aspekte zum Problem einer „österreichischen Nation” lieferten. Nach dem Werk Friedrich Heers („Der Kampf um die österreichische

Identität”) wurde der Leser im vergangenen Jahr gleich mit zwei neuen Publikationen konfrontiert: Während Felix Kreissler im Ubergang von der Ersten zur Zweiten Republik die bewußtseinsmäßige Ortung einer österreichischen Nation, in pointierter Distanzierung zum Deutschtum, vornimmt („Der Österreicher und seine Nation”), bemüht sich Ernst Bruckmüller („Nation Österreich”), ohne seinen Fragestand näher zu definieren, mit sozialhistorischen Argumenten die Existenz einer nationalen Identität des Österreichers nachzuweisen.

Wenn man Meinungsumfragen der letzten Jahre glauben darf, besitzt die österreichische Nachkriegsgeneration ein bis zu diesem Zeitpunkt nicht erreichtes Höchstmaß an „nationalem” Selbstverständnis. Österreich erscheint nicht mehr als ein „Staat wider Willen”, wie in der Zwischenkriegszeit argumentiert wurde, sondern als ein „Staat, den man wollte”.

Angesichts einer solchen Entwicklung gilt es freilich, nach inhaltlichen Kriterien dieses „österreichischen” zu fragen, das heißt nach der objektiven Grundlage des Österreichbewußtseins. Und hier spielt der Versuch der Rekonstruktion der historischen Dimension eine besondere Rolle: denn sobald dieses historische Gedächtnis verlorengeht, ist man, als Individuum und als Gesellschaft, relativ leicht verschiedenen Strömungen und politischen Manipulationen ausgesetzt. Es ist also nicht zuletzt an den Vertretern der historischen Disziplinen gelegen, die Konturen des österreichischen aus dem teilweise schon verschütteten historischen Gedächtnis der Bewohner dieses Landes nachzuzeichnen und ins Bewußtsein treten zu lassen.

Diesem Ziel diente jüngst ein internationales Symposium in Wien, das die österreichische Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts in der österreichischen Akademie der Wissenschaften unter dem Titel „Vaterlandsliebe und Gesamtstaatsidee im österreichischen achtzehnten Jahrhundert” veranstaltete. Wobei gerade ein abschließendes Roundtablege-spräch (unter der Teilnahme von Ernst Bruckmüller, Moritz Csäky, Grete Klingenstein, Gernot Kocher und György Sebestyen) die Relevanz der Thematik für das Österreichbewußtsein der Gegenwart zu verdeutlichen suchte.

Warum aber der Rekurs auf das 18. Jahrhundert? Nun: gerade damals begannen sich im ökonomischen, im sozialen, im kulturellen und im politischen Bereich wesentliche Standpunkte herauszubilden, die das Denken der kommenden Generationen bis in unsere Zeit bestimmen sollten. In bezug auf die bewußtseinsmäßige Identifikation alter (ständischer) und neuer (aufgeklärtes Bürgertum) sozialer Schichten mit dem Politikum (Staat) ging es in diesem Zeitalter der Aufklärung zunächst um die Abgrenzung von Patriotismus und Kosmopolitismus. Verschiedentlich versuchte man, die Heimat- und Staatsbe-zogenheit des Patriotismus („Vaterlandsliebe”) mit einer internationalen kosmopolitischen Einstellung in Einklang zu bringen: Rousseau, der wesentliche Vordenker des modernen Patriotismus, war gleichzeitig auch Kosmopolit. Doch zunehmend begann man sich, begünstigt durch die politisch-kriegerische Realität, bloß auf das eigene Vaterland zu konzentrieren —eine Entwicklung, die in die Nationalismen des 19. Jahrhunderts mündete.

Manche freilich wehrten sich gegen eine solche Entwicklung, so etwa Wieland oder Lessing, der meinte, es wäre „recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaften hinweg wären und genau wüßten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhöret”.

Diese europäische Patriotismusdiskussion wurde in der Habsburgermonarchie noch dadurch kompliziert, daß hier vor allem aufgrund einer für den ostmitteleuropäischen Raum typischen ethnischen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt noch viel intensiver als anderswo mehrere Patriotismen nebeneinander existieren und sogar die einzelnen österreichischen Erbländer — die heutigen Bundesländer — jeweils ihr eigenes patriotisches Selbstverständnis hatten. Solche „organische Patriotismen” versuchte

Pluralität von Bestimmungen und Einflüssen die zentrale Staatsführung zunehmend zu einem „organisierten Patriotismus”, der sich auf den Gesamtstaat richtete, umzuleiten.

In dieser österreichischen Auseinandersetzung im 18. Jahrhundert war vor allem Josef von Sonnenfels federführend: seine Abhandlung „Uber die Liebe des Vaterlandes” regte mittelbar auch manche andere Denker, so den Zipser Johannes Genersich, an.

Freilich blieb letztlich die Spannung zwischen einem böhmischen, einem pointiert-politischen ungarischen, einem südslawischen, einem siebenbürgisch-sächsischen oder einem sieben-bürgisch-rumänischen und diesem Gesamtstaatspatriotismus auch weiterhin bestehen. Auf der anderen Seite muß freilich betont werden, daß eine vielfältige Wechselwirkung, eine gegenseitige Beeinflussung für all diese politischen und ethnisch-kulturellen Gruppen und Kräfte bezeichnend war, eine Tatsache, die vor allem im Phänomen des österreichischen Judentums zum Ausdruck kam.

Diese Pluralität von Bestimmungen und Einflüssen wurde letztlich ein wichtiges Kriterium des „Gesamtösterreichischen”, sie ist aber auch, von dieser historischen Dimension aus betrachtet, ein unterscheidendes Charakteristikum des österreichischen in der Gegenwart geblieben: ethnisch, kulturell und zum Teil sprachlich ist diese Pluralität in der Tat auch heute noch präsent — und das österreichische ohne diesen historischen Hintergrund erklären zu wollen, wäre ein wirklichkeitsfremder Anachronismus.

Robert Musil meinte einmal in einem Interview mit Alfred Polgar, daß von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet der Österreicher — im Gegensatz etwa zum Deutschen — „keinen Charakter” habe. Nimmt man freilich diese Pluralität auch ernst, dann hat Österreich — auch in der Gegenwart — vor allem Mittlerfunktion: als „Porta orientis”, wie es Hugo von Hofmannsthal genannt hat oder als „Relaisstation”, wie es Sebestyen nennt, vermag es nicht nur zu verbinden, es sollte auch — ohne einem nostalgischen Pathos zu verfallen — anspornend und beispielhaft wirken für ein Europa der Zukunft.

Der Autor ist Professor für Geschichte an der Universität Graz.

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