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Die Einheit — ein Traum

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Ein konventioneller Angriff der Warschauer Pakt-Staaten auf Westeuropa kann von NATO-Truppen nicht aufgehalten werden. Man fordert den Einsatz von Atomwaffen - die NATO hält sich den atomaren Ersteinsatz als Option glaubwürdiger Abschrek-kung immer noch offen - und bekommt ihn vom Weißen Haus gebilligt. 17 Atomsprengköpfe mit einer Stärke von je 100 Kilotonnen detonieren über den WAPA-

Staaten Ungarn, Polen, Tschechoslowakei und Deutsche Demokratische Republik; einer trifft sogar das NATO-Land Türkei.

Das Planspiel einer NATO-UbUng mit Namen „Wintex-Cimex“ hat die Deutschen - zu beiden Seiten der Elbe — aufgeschreckt. Zumal aus der Ubungs-annahme klar wird, daß alle A-Waffen in diesem Fall von der Bundesrepublik Deutschland aus abgefeuert werden, nur eine die Sowjetunion treffen - und damit eine interkontinentale Konfrontation vermieden werden soll. Die Deutschen vernichten sich selbst, das liegt auf der Hand.

Die Logik, den Atomkrieg zu begrenzen, erweist sich für die Deutschen als tödlich. Deutschland fungiert als Schutzschild für die USA, die einen atomaren Gegenschlag von ihrem Land fernzuhalten suchen. Verständlich, daß sie das tun müssen und werden. Aber das Gebäude einer Verteidigung der Freiheit Europas durch die USA ist damit vom Einsturz bedroht.

Die Deutschen westlich der Elbe begreifen es. Die Regierung reagiert verunsichert. Nur Außenminister Hans-Dietrich Genscher ist gewillt, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Östlich der Elbe hat man vor diesem Szenario schon immer gewarnt; freilich wenig glaubwürdig.

Wohin sind die beiden—seit 1955 in den Militärblöcken festverankerten - deutschen Staaten gekommen? War nicht jeder politische Schritt des einen und des anderen Deutschlands eine Funktion jeweiliger Blockstrategie? Konnte daher das Problem der deutschen Einheit real gar nicht ins Auge gefaßt werden - selbst wenn das Grundgesetz der Bundesrepublik die Pflicht begründet, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden?

Deshalb wurden auch jene Realisten von den Sonntagsrednern immer abgeschmettert, die - wie der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin Eberhard Diepgen - vor einer Destabilisie-rung der DDR warnten, oder die — wie Kanzleramtsminister Schäuble - der anderen Seite nichts Unzumutbares zumuten wollten. Unvermutetes hingegen hat die Block-Politiker — hier gehört auch Konrad Adenauer nicht lobend erwähnt - immer erschreckt.

Stalins Angebot eines wiedervereinigten Deutschlands vom März/April 1952 wurde nur als Störmanöver zur Hintertreibung des Abschlusses des EVG-( Europäische Verteidigungsgemeinschaft-) und des Deutschlandvertrages gesehen. Die Denkschrift Richard Meyer von Achenbachs, eines führenden

Ostexperten im alten Auswärtigen Amt, über die Möglichkeit einer Wiedervereinigung Deutschlands auf der Grundlage eines Ausgleichs mit der Sowjetunion wurde im Jahre 1953 unterdrückt, er selbst mundtot gemacht.

Und wie sieht es gegenwärtig mit Einheitsbestrebungen aus? Ein Dauerthema ohne politische Initiativen — sogar in Gorbatschow-Zeiten wie diesen.

Nur Fachleute denken heute über die paradoxe Situation nach, daß die Deutschlandpolitik nicht auf der Höhe der Zeit steht. „Es ist unmöglich, daß die von den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs in der Mitte Europas errichtete Nachkriegsordnung Deutschlands bis in das nächste Jahrhundert hinein andauert“, meint der Kreml-Experte Wolfgang Seiffert.

Und der DDR-Fachmann Wolfgang Venohr legt gleich einen Etappenplan von 1991 bis 2005 (Zeitverschiebungen, konzediert er, seien möglich) vor, mit dem es zur Bildung einer „Demokratischen Konföderation Deutschland“, zu Truppenabbau, Grenzabbau und schließlich Blockfreiheit kommen soll.

Ahnlich gelagert ist der Vorschlag des ehemaligen NATO-Generals Günter Kießling, der das alte Tabu Neutralität, die für ihn kein Verrat ist, bisher aber bestenfalls als „Lösung“ für die DDR angesehen wurde, aufbricht. An der Spitze des Umwandlungsprozesses der beiden Deutschländer in einen neutralen Staat müßte allerdings eine freie Willensentscheidung des deutschen Volkes stehen.

Dieser Entscheidung müßte es dann gelingen, die in den jeweiligen politischen Eliten der beiden deutschen Staaten neu entstandene Identität zu relativieren — wohl das schwierigste Unterfangen neben den Verhandlungen mit den Supermächten.

Der 85jährige George F. Ken-nan, seinerzeit als Direktor des Planungsstabes im US-Außenministerium mit der Deutschland-Frage beschäftigt, sieht heute keine Chance auf eine Einigung Deutschlands, weil ein entwaffnetes Deutschland - in den fünfziger Jahren für ihn durchaus denkbar — gegenwärtig nicht in Frage komme und ein neutrales, bewaffnetes Deutschland „nicht nur unglaubwürdig, sondern auch nicht wünschenswert“ ist. Bleibt der Wunsch nach Einheit Schwärmertraum, oder steht die Deutschlandpolitik aufgrund der globalen Entspannung und eines wieder erwachenden Selbstbewußtseins der Deutschen vor einem neuen Anfang?

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