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Die Eltern sind die wirklich Schwachen

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Man hört von Kindesmiß-handlung, abgeschobenen Kindern, von Tausenden von Scheidungswai-sen. Kann in einer solchen Zeit die Aufforderung, Vater und Mutter zu ehren, ernstgenommen werden?

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Man hört von Kindesmiß-handlung, abgeschobenen Kindern, von Tausenden von Scheidungswai-sen. Kann in einer solchen Zeit die Aufforderung, Vater und Mutter zu ehren, ernstgenommen werden?

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Das Wort von der Elternehre gehört zu jenen zehn Worten, in denen die Liebe Gottes dem Volk Israel und der ganzen Menschheit gegenüber verdichtet ist. Aus Gottes Mund kommend, ist es also ein offenbarendes Wort, das etwas aufdecken will. Geschrieben auf steinerne Tafeln, also bleibend gültig, besagt es - in unserer katholischen Tradition als viertes Gebot bezeichnet - folgendes:

Es gibt eine menschliche Beziehung, die von allen anderen herausgehoben ist. Es gibt eine menschliche Beziehung, in der sich Gott besonders zeigt, in der seine Nähe und Fremdheit, seine Herrlichkeit und seine Ehre aufleuchten.

Es gibt eine menschliche Beziehung, in der die Entscheidung über das Leben fällt, und zwar über das Leben in seiner biologischen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Dimension. Das ist die Eltern-Kind-Beziehung.

Wenn auch sprachlich an die Kinder formuliert, sind die Eltern immer mitangesprochen: Einmal weil sie hören, was den Kindern gesagt wird, und zum anderen, weü sie immer auch in der Kinderrolle sind. Beiden wird gesagt: Wenn in dieser Beziehung die Ehre herrscht, wenn das Fundament die Ehrfurcht bildet, dann können beide wirklich leben.

Oder mit den Worten der Propheten warnend und zur Umkehr rufend ausgedrückt: Die Katastrophe, die letzte Zerrüttung des Lebens, zeichnet sich dort ab, wo Mutter und Tochter, Vater und Sohn sich sprachlich nicht mehr verständigen können, gefühlsmäßig Verachtung füreinander empfinden und die eigenen Hausgenossen zu den schlimmsten Feinden werden.

Unser „klassisches” Bild von Kindern ist geprägt von Worten wie Ohnmächtigkeit, Ausgesetztheit, Abhängigkeit, Kleinheit. Die Heilige Schrift und die Tradition stellen andere Dimensionen des Kindes heraus. Die Kinder sind die Lieblinge Gottes; sie sind Zeichen seines Segens. Um die Größe der Kinder wissend, hat Jesus sie als Träger des Reiches Gottes bezeichnet und all jenen mit dem Tod gedroht, die diese Größe mißbrauchen.

Auf diesem Hintergrund ist das vierte Gebot zu lesen. „Ehre deinen Vater und deine Mutter.” Was heißt nun ehren? Die hebräische Wurzel des Wortes bedeutet schwer machen, gewichtig machen, jemand für bedeutsam halten hochachten, verehren. Den Kindern wird zugemutet, daß sie Vater und Mutter nicht aufgrund von Fähigkeiten und Eigenschaften, sondern allein von der Rolle her aufbauen, für wichtig erachten, groß machen, verehren.

Selbstverständlich ist dabei vorausgesetzt, was die Eltern (zumindest der jüdische Vater) am Tag zweimal hören: Du wirst deinen Kindern von meiner Liebe erzählen ... Die erzählenden, ansprechenden, liebenden, ehrbaren Eltern, also Eltern mit Selbstwert und Selbstbewußtsein, sind Bedingung und Frucht dieser Ehrung.

Ich weiß, wie sehr Kinder unterdrückt sind und elterliche Macht im Namen dieses Gebotes mißbraucht wurde und wird. Aus der geschichtlichen Situation ist daher auch der Pendelausschlag verständlich, daß heute in der Betrachtung des vierten Gebotes die Verantwortung der Erwachsenen betont und die der Kinder praktisch vernachlässigt wird.

Zur Uberwindung des Problems hilft die Wiederentdeckung der biblischen Sicht des Kindes, das heißt die Entdeckung, daß in der Eltern-Kind-Beziehung die Kinder die Starken und die Eltern die Ohnmächtigen sind.

Körperliche Gewalt, das Erkaufen momentanen Wohlverhaltens durch Geschenke und Nachgiebigkeit, die Einengung des Lebensraumes sind Ausdrücke von Ohnmacht der Erwachsenen gegenüber dem Leben, wie es sich in den Kindern zeigt. Die Eltern sind darauf angewiesen und davon abhängig, daß die Kinder sie aufbauen, sie ganz aus Liebe, das heißt frei und umsonst ehren.

Darum sehe ich das Problem der Eltern heute nicht darin, daß sie Partner ihrer Kinder sind, sondern viel tiefergreifend, ob sie

„Wer kann einem alkoholabhängigen Vater die Menschenwürde geben, wenn nicht die eigenen Kinder?” den Mut zu einer Rolle haben, die ganz von der Ehrung der Kinder abhängt - so ähnlich wie Gott sich ganz von der Ehrung der Menschen abhängig macht.

Unter dieser Rücksicht — das vierte Gebot als Weg zur Ehrung der Eltern im Sinne des Hörens und Erzählens — kann es als Weisung zur Erziehung gesehen werden: Daß nämlich die Eltern den Kindern einen Zugang zum Leben in Ehrfurcht, Verbindlichkeit und Verantwortung erschließen, indem sie ihnen zutrauen, Menschen zu werden, die andere aufbauen.

Denken wir so groß von unseren Kindern? Trauen wir ihnen diesen Weg zu? Haben wir vor ihrer Stärke Angst und damit überhaupt vor dem Leben? Halten wir uns als Eltern für stark, daß wir diese Ehrung nicht mehr benötigen? Macht uns unsere Lebensgier blind für das Leben?

Und noch etwas wird den Heranwachsenden in der Elternehre zugemutet: Das ist der Umgang mit der Schuld der Väter und Mütter. Angesprochen ist damit die Herausforderung, die mit dem Prozeß des Selbständigwerdens der Kinder gegeben ist. Es wird klargestellt, daß die eigene Größe, nur erkauft durch die Schwächung und Herabsetzung von Mutter und Vater, nicht zum Segen wird.

Positiv formuliert: Jedem Jugendlichen, der über Vater oder Mutter klagt, sage ich: Du mußt jetzt selbständig die Erziehung der Eltern übernehmen. Du allem hast alles in der Hand.

Wer kann z. B. einem alkoholabhängigen Vater die Menschenwürde und Ehre geben, wenn nicht die eigenen Kinder? Die Annahme oder Nichtannahme der Grenzen der Eltern entscheidet über die Selbstannahme oder den Eigenhaß der Kinder.

Selbstverständlich beginnt das Gericht über die Eltern nicht erst, wenn die Kinder in die Pubertät kommen. Aber dort zeigt es sich besonders deutlich. Das vierte Gebot will in diesem Konflikt den Weg der Versöhnung und des Friedens weisen.

Auszug aus einem Vortrag, den der Münchner Laientheologe und Vater von vier Kindern am 1. April 1985 im Rahmen der Salzburger Studientagung zum Thema „Elternehre -heute noch gefragt?” gehalten hat.

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