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Die Elternphilosophie

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Nicht nur in der Bildung selbst, auch in der Bildungspolitik besteht immer die Gefahr, in eine Sackgasse zu geraten. Nur: während heute die Sackgasse in der Bildung durch Reformen einen Ausweg erhalten soll, scheint es, als ob man in der Bildungspolitik mit gleicher „Geschwindigkeit“ in eine neue Sackgasse laufen möchte.

Daran ist nicht nur eine weitverbreitete Elternphilosophie schuld: „Unser Kind soll etwas Besseres werden.“ Vielfach spielt hier bei den Eltern ein gesundes Maß an Frustration, oft aber auch falcher Ehrgeiz mit. Trotzdem — das soll hier unmißverständlich festgehalten werden — ist es nur zu begrüßen, wenn Eltern ihren Kindern die Chance auf mehr und bessere Bildung einräumen. Daran sind auch Politiker und ihre Politik schuld: Wir brauchen mehr Akademiker, mehr Maturanten.

Wer aber glaubt — egal ob Eltern oder Politiker —, mit höherer Bildung einen sprichwörtlichen goldenen Berg vor sich zu haben, wird plötzlich über Nacht unangenehmen Überraschungen gegenüberstehen. Heute ist man lediglich unangenehm überrascht, wenn der Elektriker, der am Vorabend seinen Besuch angekündigt hat, um den Kühlschrank, der schon seit eineinhalb Wochen außer Betrieb ist, zu reparieren, schon wieder nicht kommt. Man vermutet einen Akt der Böswilligkeit, während der Handwerker von Arbeitsüberlastung spricht. Und wenn man weiter darüber nachdenkt, dann wird der Ärger noch größer: Die Überlegung, daß der Elektriker nicht nur nicht sofort kommt, sondern für seine Arbeit letzten Endes — wenn er sie mit Verspätung doch immer wieder erledigt — eine „schöne Stange“ Geld bekommt, wird mit der Tatsache verknüpft, daß man im Vergleich dazu auch kaum mehr verdient, obwohl man „mehr“ gelernt hat. Kommt man aber ohne diesen Elektriker aus?

Vielleicht ist es ein Krankheits- symptom unserer Gesellschaft und ihrer Bildungspolitik, daß die eigenen Grenzen nicht erkannt werden. Sicherlich: wir brauchen mehr Wissenschaftler, wir brauchen mehr Fortschritt durch Wissenschaftler: Denn wir sind davon überzeugt, daß die fortschreitende Technisierung und Automatisierung uns die „schmutzige“ Arbeit abzunehmen imstande sein könnte. Oder: Ein Großteil der Arbeiten, die zu den sogenannten Hilfsarbeiten zu zählen sind, können morgen schon von der Maschine erledigt werden. Der Job des Tellerwäschers, der als Hilfsarbeiterdienst heute noch relativ einträglich ist, wird bald generell durch Geschirrspülmaschinen abgelöst werden. Aber wer kann sich vorstellen, daß ihm eine Maschine die Haare schneidet? Da wird man doch auch weiterhin zum Friseur gehen.

Das ist die eigentliche Problematik: Hilfsarbeiten und einfache Produktionsvorgänge kann die Maschine für uns erledigen, eine Dienstleistung werden wir aber auch weiterhin nur von uns selbst erwarten können.

Nun braucht man aber auch für Dienstleistungen qualifizierte Arbeitskräfte. Kurz: Meister ihres Faches. Wer will aber heute in die Meisterlehre gehen? Auf dem Lehrlingsmarkt besteht ein Engpaß, der von Tag zu Tag spürbarer wird. Seit 1965 hat die Zahl der Lehrlinge um ein Drittel abgenommen! Es fehlt nicht nur an ihnen, die neben der Meisterlehre auch eine Berufsschule besuchen, sondern auch an Absolventen von mittleren berufsbildenden Schulen. Hier nicht so sehr an Handelsschülern, dafür aber an Abgängern von technischen, gewerblichen und kunstgewerblichen Fachschulen, an Mädchen aus Fachschulen für wirtschaftliche Frauenberufe und an Absolventen der Fachschulen für Sozialarbeit. Es fehlen Heimerzieherinnen und Kindergärtnerinnen. Der Bedarf an solchen Fachkräften ist heute schon dreimal so hoch wie das Angebot. Allein bei den Facharbeitern steht jährlich ein Sechstel zuwenig zur Verfügung.

Der Trend zum Büro, zur „besseren“ Arbeit, hält unvermindert an. Vor allem den Mädchen steht eine „Bürokarriere“ vor Augen. Die Gesellschaft hat das Ihre getan und den Schreibtischberuf — mit Chefromanzen und Drum und Dran — erstrebenswert gemacht. Dafür gibt es keine Krankenschwestern, keine Familienhelferinnen. Wie überhaupt in der Mädchenbildung die unbewäl- tigte Emanzipationsbewegung deutlich erkennbar ist: Heute ist es leichter, Physikerin zu werden, als eine Ausbildung für die Doppelrolle der Frau in Beruf und Familie zu erhalten.

Vor allem seit 1966, als erstmals der Polytechnische Lehrgang geführt wurde, ist der Eintritt in die Berufslehre rapid zurückgegangen. Viele scheuen diese Art der Absolvierung des 9. Pflichtschuljahres und wechseln in das weiterführende Schulwesen über. Das wird von der Wirtschaft als ausgesprochener Nachteil empfunden. Doch bei allen Schattenseiten, die man nur zu gerne beim „Polytechnischen“ sieht, darf man die positiven Aspekte nicht außer acht lassen: Seit der Polytechnische Lehrgang läuft, kommt es immer weniger zu einem Berufswechsel im ersten Lehrjahr. Ebenso geht die Zahl der jugendlichen Hilfsarbeiter radikal zurück. Wenn jetzt bei den Reformüberlegungen eine noch nähere Berufsbezogenheit des Polytechnischen Lehrganges und noch mehr Leistungsfreundlichkeit zur Diskussion stehen, so könnte aus dem „Kompromißkind“ der Schulgesetze 1962 eine überaus brauchbare Bildungsmöglichkeit geschaffen werden.

Grundsätzlich brauchen wir aber ein neues Verhältnis zur Bildung, hier vor allem auch zur Berufsbildung. Man kann in diesem Zusammenhang gerade den Sozialisten nicht den Vorwurf ersparen, daß sie, darauf bedacht, einem - Nachholbedarf an höherer Bildung — („Zuwenig Arbeiterkinder sind Akademiker“) — das Wort zu reden, die Weiterentwicklung und den Ausbau der Berufslehre in ihren Überlegungen vernachlässigt haben. Auf der anderen Seite bestehen im bürgerlichen Lager unverständliche Vorurteile, daß ein Kind einer Akademikerfamilie beispielsweise kein Handwerk erlernen solle. Und das, obwohl nach wie vor das Handwerk „goldenen Boden“ hat. Denn soviel ist uns allen klar: ohne Handwerker, ohne Facharbeiter, kann auch die perfekteste Bildungsgesellschaft nicht ihr Auskommen finden.

Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Entwicklung wird man nicht umhin können, Talent und Begabung zu berücksichtigen. Und es gibt auch ein ausgesprochen handwerkliches Talent. Dieses verkümmern zu lassen, das Kind vielleicht sogar in einen Bildungsweg zu zwingen, den es nach dem Willen der Eltern oder gar zufolge einem „Trend der Zeit“ absolvieren soll, könnte eine der bedeutendsten Fehlentwicklungen der Bildungspolitik unserer Jahre sein.

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